Wer bin ich, was kann ich dementsprechend (nicht) wissen und wie gehe ich damit um?

Ich heiße zwar Hannah, ich bin nicht jüdisch, auch wenn mein Vater mit uns manchmal Chanukka gefeiert hat und wir heute Steine an den Baum legen, unter dem er begraben liegt. Ich bin eine Europäerin mit deutschem Pass, weiß, 31 Jahre alt und Theatermacherin, aktiv im Raum Hessen mit Sitz in Frankfurt am Main. Ich habe bisher keine Diskriminierungserfahrungen gemacht, mal abgesehen von denen, die jede Frau in einer patriarchalen Gesellschaft permanent macht. Ich habe Privilegien und bin mir dieser nicht aller bewusst.

Mein Bezug zum Judentum ist ein irrwitziger, könnte man sagen und kann nicht erklärt werden, ohne etwas über meinen Vater zu wissen. Denn mein Vater war Nachkriegskind, der Sohn eines NS-Kriegshelden und hat sich, so vermute ich heute, aus einem Schuldkomplex heraus sehr stark mit dem Judentum identifiziert: Er studierte Geschichte und Politik und beschäftigte sich mit der Verfolgung der Juden im Neckar-Odenwald-Kreis während des Dritten Reichs. Er hatte viele jüdische Freunde und Freundinnen und reiste oft nach Israel, um sie für wissenschaftliche Zwecke zu interviewen. Er schickte seine beiden älteren Töchter in ein Kibbuz. Er war der Verwalter des jüdischen Friedhofs im Nachbarort und machte dort Führungen für Tourist*innen. Er war Lehrer am Gymnasium und initiierte dort den regelmäßig stattfindenden Ausflug für alle Schüler*innen der Klassenstufe 8 in eine nahegelegene KZ-Gedenkstätte, bei dem sie einen Holocaust-Überlebenden treffen und mit ihm sprechen konnten. Er hatte eine beachtliche Sammlung an Geschichtsbüchern über das Dritte Reich und las gern Hannah Arendt. Er nannte seine jüngste Tochter Hannah. Er vermittelte mir, dass wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen müssen, um die Zukunft positiv zu gestalten. Er untersuchte den Antisemitismus der Gesellschaft, aus der der Faschismus des Dritten Reichs entstand und fokussierte sich dann auf die Opfer: Er blieb nicht bei den Tätern und Mechanismen des Faschismus, er wand sich den Juden und Jüdinnen zu, die ihn überlebten und Geschichten ihrer Angehörigen erzählten, die ihm zum Opfer gefallen waren und versuchte, zusammen mit ihnen zu verstehen, zu verarbeiten und gemeinsam nicht zu vergessen. Er starb mit 69 Jahren an Demenz, er hatte alles vergessen, aber er liebte bis zuletzt seinen Hund.

Ich könnte also sagen: Meine Perspektive auf das Judentum ist die eines Schulkomplexes der zweiten Generation – ich fühle zwar keine aktive Schuld mehr, nur noch einen Komplex. Ich war einmal in der Synagoge und musste weinen, und weiß bis heute nicht genau, warum. Ich habe mich dazu entschieden, im Israel-Palästina-Konflikt keine Haltung einzunehmen, weil ich denke, dass ich das nicht verstehen kann. Ich wollte immer mal nach Israel und war letzten Sommer eine Woche dort. Ich fühlte mich geschmeichelt, als man mich im Taxi für eine Heimkehrerin hielt und war gleichzeitig geschockt über den Rassismus, den ich dort wahrgenommen habe. Ich habe mich im Laufe meiner Ausbildung an der Goethe-Universität Frankfurt viel mit der Inszenierung jüdischer Identität auseinandergesetzt und schrieb in Medienwissenschaft meine Abschlussarbeit über Seinfeld, Friends und The Big Bang Theory und darin vorkommenden Darstellungsstrategien „jüdischer Identität“. Fran Drescher als Die Nanny ist mein Vorbild, wenn es um Kleidung geht. In meinen Theaterstücken geht es nicht selten um Faschismus, Krieg, Nazis, Rassismus, Antisemitismus oder Diskriminierungsmechanismen. Ich denke, ich weiß viel über das Judentum und weiß doch eigentlich gar nichts.

Was ich aber trotzdem weiß: Ich bin keine Jüdin und habe dementsprechend nie erfahren, wie es sich anfühlt, antisemitisch angegriffen zu werden oder wie es ist, der jüdischen Community anzugehören. Ich weiß nicht, was „jüdische Identität“ ist, wie sie sich anfühlt und bekomme mein Wissen darüber von jüdischen Autorinnen und Autoren, die versuchen, es für Nicht-Juden*innen wie mich zu beschreiben. Ich beschäftige mich mit der Fragestellung dieser Plattform aus einer sogenannten Außenperspektive, und verfolge das Ziel, etwas zu erfahren, was mich aus den unterschiedlichsten Gründen interessiert, bin dabei aber weder neutral noch objektiv, da alles, was ich beobachte, durch die Brille gefärbt ist, die ich durch meine Persönlichkeit, meine Geschichte, mein Wissen und vor allem durch mein Nicht-Wissen aufhabe: also ist alles subjektiv und obliegt somit meiner persönlichen Verantwortung eines sensiblen Umgangs. Denn ich will niemanden verletzen, nie und niemals. Dies wird mir nicht immer gelingen. Meine Außenperspektive auf das Thema, das für viele aber ein Inneres ist, bringt mich manchmal in ein Gefühl des Unbehagens; dieses Unbehagen begleitete mich schon, als ich vor fünf Jahren meinen Abschluss schrieb, und hat sich durch viel Reflexion, Auseinandersetzung, Gespräche mit Betroffenen und Geschehnissen, die passiert sind, in den letzten Jahren noch mehr verstärkt. Die Konsequenz für mich wäre also eigentlich, mich nicht weiter dafür zu interessieren oder zum Judentum zu konvertieren, um mich weiter dafür interessieren zu dürfen, ohne dieses Unbehagen zu spüren. Oder aber: Mir meines Unbehagens bewusst zu sein, es zu kommunizieren, mich weiter für Sitcoms und jüdische Identität zu interessieren und mich darüber zu freuen, dass es Juden und Jüdinnen gibt, die ihr Wissen und ihre Gedanken zur Fragestellung (mit mir) teilen und uns damit zu Verbündeten in ihrem Leben machen können.

Aufgabe 1: Versuche meinen Text so umzuschreiben, dass er auf dich zutrifft.

Aufgabe 2: Hast du ein Unbehagen gefühlt, als du meinen Text gelesen hast? Wenn ja, warum und wenn nein, warum nicht? Hast du etwas hinzuzufügen und wenn ja, was? Schreibe einen kleinen Brief an mich. Du musst ihn mir natürlich nicht schicken.