Was ist Self-Awareness überhaupt?

Self-Awareness ist ein englischer Begriff, der auf unterschiedliche Arten ins Deutsche übersetzt wird: Wir finden ihn formuliert als Selbsterfahrung, Eigenwahrnehmung, Selbstbewusstsein, Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstheit, Selbstgefühl, Selbsterkenntnis und Selbsterfassung. Er hat also etwas mit dem Ich und damit mit der eigenen Identität zu tun. Der Begriff Self-Awareness wird sowohl in der Psychologie als auch in der Philosophie und in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften benutzt, um Prozesse der Ich-Werdung des Menschen, sei es in seiner persönlichen Geschichte wie in der Menschheitsgeschichte zur Beschreibung evolutionärer Prozesses, zu beschreiben.

Ein bekanntes und für unsere Fragestellung wichtiges Beispiel der Benutzung des Wortes Self-Awareness ist die von dem Psychologen Jacques Lacan 1936 formulierte Theorie des Spiegelstadiums. Dieses fußt auf der Beobachtung, dass Kinder zwischen ihrem 6. und 18. Lebensmonat ihr eigenes Bild in einem Spiegel erkennen und sich verzückt selbst begrüßen. Diese Verzückung interpretiert Lacan als Identifikation des Kindes, das sich dort zum ersten Mal selbst begegnet, mit seinem Bild. Diese Begegnung ist vor allem deshalb ein Anlass zur Freude, weil sich das Kind im Spiegel zum ersten Mal vollständig sieht, anstatt „zerstückelt“ aus der Perspektive seiner eigenen Augen – aus welcher man das eigene Gesicht nie sieht und seine eigenen Gliedmaßen daher unzusammenhängend als abgetrennt erscheinende Objekte. Erst durch das im Spiegel erblickte Selbstbild entwickelt das Kind ein Bewusstsein von sich selbst als Ganzes. War es zuvor noch mit seiner Außenwelt – v. a. in Form der Mutter – verbunden, beginnen sich nun Ich und Nicht-Ich voneinander zu trennen. Das Kind erfährt sich zum ersten Mal als autonomes, vollständiges Lebewesen und als Anderes zu seiner Mutter, dem Nicht-Ich.

Du fragst dich vielleicht, was das mit dem Thema dieses Kurses zu tun hat? Warte es ab!

Wir brauchen ein Beispiel:

Wenn du dich selbst für unglaublich ordentlich hältst, deine Freundin aber zu dir sagst: „Du bist voll chaotisch. Hier sieht’s ja aus wie im Schweinestall!“ verletzt dich das vielleicht – weil die Wahrnehmung deiner Freundin von dir von deiner Selbstwahrnehmung abweicht. Und wieso nimmt sie sich überhaupt das Recht heraus, über dich zu sprechen und dann auch noch zu urteilen?!

Wenn wir nach Identität fragen, ist das Ganze dann aber nochmal viel viel komplizierter. Denn Identität ist nicht irgendein Talent oder eine Fähigkeit, sondern die Summe aller Eigenschaften, Ideen und deine eigene Geschichte, die dich als Person ausmachen. Und dann macht es einen großen Unterschied, ob wir diese Identität teilen (also ob sie Teil des eigenen Ichs ist) oder aber nicht teilen (ob sie Teil meines Nicht-Ichs, also das Andere, ist). Und je nachdem, aus welcher Perspektive wir wie hier nach der Inszenierung „jüdischer Identität“ fragen, werden wir andere Ergebnisse bekommen, die nicht immer den Ergebnissen entsprechen, die wiederum die für mich Anderen haben. Und das kann zu Konflikten und Verletzungen führen, die unnötig sind und wo wir uns im Zweifel Urteile erlauben, die wir gar nicht fällen können, weil wir ja aus einer Fremdperspektive auf diese Identität schauen.

So haben sich in den letzten Jahren auch die Cultural Studies, die Geschlechterforschung und die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, die sich wissenschaftlich mit Fragen von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung in der Gesellschaft auseinandersetzen, zur Aufgabe gemacht, immer mehr zu fragen, wer das Ich ist, das beobachtet und schreibt. Somit wird die Perspektive des Forschenden verdeutlicht und damit verdeutlicht, was er oder sie eben (nicht) wissen kann, dadurch, dass er oder sie Ich ist.

Kompliziert?!

Oh ja.

Aber das Leben ist eben kompliziert.

Wir schauen nochmal in Abschnitt 1, Lektion 2, vielleicht wird es dann deutlicher und weniger kompliziert. Ich stelle eine Lernplattform zur Inszenierung von „jüdischer Identität“ in US-amerikanischer Popkultur zur Verfügung, obwohl „jüdische Identität“ für mich das Nicht-Ich, das Andere ist, weil ich selbst nicht jüdisch bin. Ich habe einen Blick von außen auf dieses Thema und muss damit umgehen, weil ich sonst denjenigen, die „jüdische Identität“ als Ich erfahren, im übertragenen Sinne in ihr eigenes Spiegelbild fasse. Und da habe ich ja wohl nichts verloren, oder?

Oder wir machen es noch ein bisschen leichter und ganz konkret:

Aufgabe 1: Spiegelstadium für Zuhause

(1) Suche einen großen Spiegel in eurer Wohnung und frage deine Mutter oder deinen Vater, ob sie oder er mit dir ein kleines Experiment macht.

(2) Stellt euch nebeneinander mit einem kleinen Abstand vor den Spiegel.

(3) Schaut euch beide im Spiegel an, sucht die Kanten, die ihr als Bild im Spiegel seht und die euch jeweils voneinander abgrenzen. Definiert im Kopf für euch, wer in diesem Bild das Ich und wer das Nicht-Ich, das Andere, ist.

(4) Sagt ganz laut im Chor: „Ich bin ich und nicht du.“

(5) Und nun beantwortet ihr beide im Kopf folgende zwei Fragen, sprecht eure Gedanken auf keinen Fall laut aus, behaltet sie für euch:

1. Wo liegen meine größten Talente?

2. Wo liegen die größten Talente des Anderen, der auch auf dem Bild zu sehen ist?

Du sprichst jetzt im Kopf einmal für dich und einmal über deine Mutter oder deinen Vater, also für das Andere. Und deine Mutter oder dein Vater tut das selbe, nur bist du für sie oder ihn das Andere.

(6) Wenn ihr damit fertig seid, stellt ihr euch ganz nah zusammen.

(7) Schaut euch beide an, sucht die Kanten, die ihr als Bild im Spiegel wahrnehmt und die euch jeweils voneinander abgrenzen. Das ist gar nicht mehr so leicht, denn ihr seid durch das Spiegelbild zu einem Körper geworden, das Ich und das Nicht-Ich sind fast nicht mehr zu erkennen. Aber natürlich sind sie noch da! Oder? Du bist ja immer doch Du und deine Mutter ist ja immer noch deine Mutter oder dein Vater ist ja immer noch dein Vater.

(8) Sage nun zu deiner Mutter oder deinem Vater, was sie oder er für große Talente hat und beginne deinen Satz mit: „Du bist….“ Du wirst in der Reaktion deines Anderen sehen, was sie oder er von deiner Einschätzung hält. Vielleicht stimmt sie oder er dir zu, vielleicht sieht sie oder er das aber auch ganz anders! Vielleicht definiert deine Mutter oder dein Vater seine eigenen Talente, also sein Ich, ganz anders als du und du hast sie oder in verletzt, als du deine Einschätzung über sie oder ihn ausgesprochen hast.

(9) Und nun darf deine Mutter oder dein Vater dir deine größten Talente sagen und beginnt ebenfalls mit den Worten: „Du bist…“. Was denkst du darüber, was deine Mutter oder dein Vater über dich sagen? Stimmst du ihr oder ihm zu oder siehst du das ganz anders? Hat es dich gefreut oder verletzt, was deine Mutter oder dein Vater über dich gesagt hat?

Gefühlt habt ihr beide dabei mit Sicherheit etwas, reagiert habt ihr sicherlich auch. Und das ist total normal und eigentlich die Grundlage jeder Kommunikation unter Menschen. Und doch birgt jede Form von Kommunikation über andere Menschen, also das Nicht-Ich, das Potential für Verletzung. Schon allein deswegen, weil es von der Einschätzung des Ichs abweicht und somit unsere Ich-Bild, also unser Selbstbewusstsein, ins Wanken bringen kann.

(10) Stellt euch wieder mit etwas Abstand nebeneinander.

(11) Schaut euch beide im Spiegel an, sucht die Kanten, die ihr als Bild im Spiegel seht und die euch jeweils voneinander abgrenzen. Definiert im Kopf für euch, wer in diesem Bild das Ich und wer das Nicht-Ich, das Andere, ist.

(12) Sagt ganz laut im Chor: „Ich bin ich und du bist du.“

(13) Umarmt euch und versucht gemeinsam, die Übung zu besprechen. Was hat euch gefallen, was nicht? Was war euch unangenehm? Wo wurden eure persönlichen Grenzen überschritten? Wann habt ihr euch wohl gefühlt, wann nicht?

(14) Macht euch klar, dass es bei dieser Übung nur um die harmlose Frage nach der Fremd- und Selbstwahrnehmung von Talenten ging, also nur um eine eurer vielen Eigenschaften, die eure Identität ausmachen.

Literaturhinweise:

Horatschek, Annegreth: Spiegelstadium. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. Weimar 2008, S. 666f

o. A.: Selbstbewusstsein. In: Lexikon der philosophischen Begriffe, hg. von Alexander Ulfig. Köln 2003, S. 376.