„Jüdische Identität“ – was ist das überhaupt?

1- Identität nicht definierbar

Die Schwierigkeit der Fragestellung stellt ohne Zweifel der Fragegegenstand selbst dar: „jüdische Identität“? Nicht nur ist der Begriff der Identität ein schwieriger und kaum greifbarer, so unterstellt die Bezeichnung ›jüdisch‹ religiöse, ethnische oder kulturelle Implikationen, die hier bedacht werden müssten, und die nur schwer zu fassen sind. Außerdem lässt die Bezeichnung von „jüdischer Identität“ darauf schließen, dass das Jüdisch-Sein Einfluss auf die Bildung der Identität hätte, was ebenfalls kritisch verhandelt werden muss.

Aber von vorne:

Ja, also, was ist Identität überhaupt? Und was ist dann „jüdische Identität“? Mein Lieblings-Lexikon schreibt zum Begriff Identität folgendes: „angesichts der transdisziplinären Heterogenität des Identitätsbegriffs und der Fülle unterschiedlich akzentuierter Identitätstheorien ist es fast unmöglich, eine Definition zu finden“.

Das hilft jetzt auch nicht weiter. Da steht nur, Identität ist als Begriff kaum zu definieren und das wird gesagt, indem noch ein Haufen mehr Fremdwörter benutzt werden.

Aber vielleicht kann uns die Kunst hier helfen, zu verstehen, was Identität sein könnte. Wenn ich ins Theater gehe, finde ich immer besonders die Stücke gut, in denen ich Figuren auf der Bühne sehe, mit denen ich mich identifizieren kann, die also sogenannte Identifikationsfiguren für mich sind.

Identität – Identifikation.

Wann kann ich mich mit Figuren identifizieren? Wenn sie mir ähnlich sind, wenn ich ihre Probleme oder Konflikte kenne, wenn ich sie verstehe, wenn sie mir sympathisch sind – kurzum: wenn sie mir entweder von ihrer persönlichen Geschichte, Biographie oder emotional nahe sind.

Aufgabe 1: Überlege, mit welcher Figur, die du aus dem Fernsehen kennst, du dich identifizieren kannst und schreibe auf, warum du dich mit dieser Figur identifizierst. Erfährst du darüber auch etwas über dich selbst? Überlege was genau du nun über dich selbst erfahren hast und formuliere dann drei Punkte, die dich in deiner Identität ausmachen.

2- Identität wandelbar

Und wenn wir uns nun die Geschichte der Juden und Jüdinnen (in den USA) in Erinnerung rufen, wissen wir auch, dass Jüdisch-Sein so viele Ausprägungsformen wie Juden und Jüdinnen hat. Jüdisch-Sein ist kein Regelkatalog, den man abarbeitet, genauso wie Identität kein definierbarer Gegenstand ist. So scheint „jüdische Identität“ als Ganzes ein Untersuchungs-Gegenstand, der eine definitorische Leerstelle bleiben muss, um sich ihm überhaupt nähern zu können. Caspar Battegay formuliert diese Leerstelle in dem zweiten Kapitel seines Bandes Judentum und Popkultur ebenfalls und schreibt hierzu, dass gerade die Popkultur – er benutzt als Beispiel Leonard Cohens „Is this was you wanted“ – sich mit ihren seriellen und nicht abgeschlossenen Formaten dazu eignet, um mit dieser Leerstelle umzugehen und darüber zu reflektieren, „wie Identität [überhaupt] gebildet wird, und wie die Übertragung, die Figuration von Identität an sich funktioniert“ (S. 24), also nicht als etwas Festes erscheint, sondern als wandelbare Figur in einem immer neu zu inszenierenden Spiel.

Das bedeutet: „Jüdische Identität“ scheint, wie Identität im Gesamten, ein Prozess, etwas, das fließt und sich in permanentem Wechselspiel mit seiner Spiegelung in der Gesellschaft, beispielsweise durch Serien, immer wieder neu ausrichtet. „Jüdische Identität“ ist also ein Untersuchungsgegenstand, der uns aus den Händen gleiten muss, sobald wir ihn berühren. Und „jüdische Identität“ ist etwas Persönliches, also als Untersuchungsgegenstand demnach eigentlich vollkommen ungeeignet.

Diese Tatsache hat für unseren Kurs eine Konsequenz und macht nun noch einmal mehr deutlich, warum das Wörtchen „(Selbst)Wahrnehmung“ im Kurstitel zu finden ist: Die eigentliche Frage also, die wir uns hier in diesem Kurs stellen, lautet dann nicht: Wie wird jüdische Identität inszeniert, sondern es geht darum, sich auf die Suche nach „jeweiligen kulturellen Artikulationen, in denen ein direkter Bezug zum Judentum als Religion oder Kultur oder irgendeinem anderen Verständnis zutage tritt“ zu begeben (so schreibt der Wissenschaft Klaus Hödl in seinen einleitenden Wortes des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Nicht nur Bildung, sondern Bürger. Juden in der Populärkultur aus dem 2013.) Und weil wir ja immer von uns selbst ausgehen müssen, geht es also mehr um unsere eigene Wahrnehmung dieser „Artikulationen“, um unsere Wahrnehmung der Inszenierung „jüdischer Identität“, nicht um jüdische Identität als solche.

Aufgabe 2: Macht euch während der Arbeit mit diesem Kurs immer wieder klar, was der Unterschied von Es-ist-so und Ich-nehme-es-so-wahr ist. Schreibe nun anhand des Begriffs „Zeit“ eine Liste mit zwei Spalten: In die ersten Spalte schreibst du alles, was du über Zeit als Faktum festhalten kannst, in die zweite Saplte schreibst du alles, was du über Zeit wahrnimmst.

Aufgabe 3: Höre dir das Lied von Leonard Cohen „Is that what you wanted“ an.

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https://www.youtube.com/watch?v=jKosiPw-85k

Versuche herauszufinden, was er aus deiner Perspektive mit der Frage „Is that what you wanted“ herausfinden möchte. Wie passt dieses Lied zur der oben aufgestellten These zu „Identität“ zusammen. Nehme dir dazu den Text des Songs vor. Diesen findest du ebenfalls im Internet.

Literaturhinweise:

Battegay, Caspar: Das Gespenst des Leonard Cohen. Identität und Figur. In: ders. (Hg.) Judentum und Popkultur. Bielefeld 2013, S.. 23-39.

Glomb, Stephan: Identität, persönliche. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. Weimar 2008, S. 306f.

Hödl, Klaus (Hg.): Nicht nur Bildung, sondern Bürger. Juden in der Populärkultur. Innsbruck 2013.

Horatschek, Annegreth: Identifikation. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning. Weimar 2008, S. 305f.