Seinfeld oder „eine kulturelle Nicht-Identität“

Nun weißt du schon sehr viel darüber, wie sich Jerry Seinfeld selbst als Künstler wahrgenommen hat, wie Jerry Seinfeld über die Serie Seinfeld denkt und welche Rolle er dem Zuschauer und der Zuschauerin zuspricht. Nun wollen wir einmal genauer in die Serie reinschauen.

1- The Yada Yada

In der Wissenschaft wird für die Frage, die wir hier nach (Selbst)Wahrnehmung und Inszenierung „jüdischer Identität“ in Seinfeld stellen, immer wieder diese Folge herangezogen:

Staffel 8, Folge 19 The Yada Yada.

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https://www.youtube.com/watch?v=u8QMIYv-y98

Du siehst in dem Clip Jerry und seinen besten Freund George in ihrem Stamm-Diner sitzen. Jerrys Zahnarzt Tim, der ihnen berichtet, vor einigen Tagen zum Judentum konvertiert zu sein, kommt zu ihnen an den Tisch und erzählt ihnen dann prompt einen Witz, der ein Stereotyp über Juden und Jüdinnen reproduziert: Er nimmt hier Bezug auf das Vorurteil, Juden und Juden wären unsportlich. Jerry ist davon alles andere als begeistert. Was bei Jerry zunächst nach einer Entrüstung bzgl. seiner Identität als Jude aussieht, zeigt sich wenig später in einem Gespräch mit seinem Freundin Elaine als Urteil aus der Perspektive seiner Komiker-Identität: Denn der Stand-up-Komiker Jerry fühlt sich durch das Witzeerzählen nicht als Jude vom frisch konvertierten Zahnarzt angegriffen, sondern als Humorist: Er mutmaßt, nicht der Religion oder Kultur, sondern des Witzeerzählens wegen sei der Zahnarzt zum Judentum konvertiert. Diese Vermutung Jerrys wiederum basiert ebenso auf einem Stereotyp: Er nimmt hier Bezug auf das Vorurteil, Juden und Jüdinnen wären sehr humorvoll und könnten gut Witze erzählen. Das Spiel mit Vorurteilen wird dann später, wenn Jerry wiederum bei Tim auf dem Zahnarztstuhl liegt, weiter auf die Spitze getrieben, indem kollektive Zuschreibungen an Gruppen von Narrativen aus dem Judentum auf die Gruppe Zahnärzte übertragen wird.

Aufgabe 1: Schau dir den Video-Clip noch einmal an und versuche herauszufinden, in wie vielen verschiedenen „Rollen“ Jerry aus deiner Perspektive hier gezeigt wird? Welche Rollen nimmt er ein? Und warum sind ihm diese unterschiedlichen Rollen wichtig, was denkst du?

Aus derselben Folge gibt weiterhin folgenden Ausschnitt:

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https://www.youtube.com/watch?v=ythrdCsOFJU

Du siehst in diesem Clip Jerry mit seinem Nachbarn Krämer sprechen. Jerry ist empört, dass Tim wiederum über seinen Zahnarzt-Witz empört war. Es entspinnt sich im Dialog mit Krämer ein groteskes Wirrwarr um Zuschreibungen an „those people“. Argumente, die zur Unterstützung von Juden und Jüdinnen im Kampf gegen antisemitische Vorurteile verwendet werden, werden von Krämer zur Unterstützung der Gruppe Zahnärzte benutzt. Krämer entwickelt innerhalb dieses Dialogs für die Beschreibung von Jerrys Argumenten die Bezeichnung „Anti-Dentite.“

Aufgabe 2: Schau dir den Clip noch einmal an und überlege, welche rhetorische Strategie Krämer benutzt, um Jerry des Anti-Dentitismus zu überführen und schreibe diese nieder. Verfasse dann einen Wikipedia-Eintrag zu Anti-Dentitismus.

Aufgabe 3: Schreibe auf, an welche Momente in deinem Leben du dich erinnerst, in denen Menschen die Formulierung „diese Leute“ benutzt haben, um über eine bestimmte Menschengruppen oder sogar nur eine einzige Person zu sprechen. Hast du dich in diesen Situationen wohl gefühlt? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

Zusammenfassung:

Die Seinfeld-Folge The Yada Yada beschäftigt sich mit Erwartungshaltungen an Reaktion auf kulturelle Zuschreibungen. Die Zugehörigkeitsgefühle zu religiösen bzw. kulturellen Gruppen und damit zu einer bestimmten Zuschreibung von individuellen Identitätsentwürfen durch Andere stehen in dieser Episode zur Disposition.

Aufgabe 4: Überlege, warum der in der Folge gezeigte Umgang mit Erwartungshaltungen an kulturelle Zuschreibungen für Jerry empowernd ist. Schreibe dann eine kleine Rede aus deiner Perspektive über das, was dich empowert!

2- The Raincoats

Immer wieder geht es in Seinfeld um die Frage nach Angemessenheit und Unangemessenheit im Umgang mit der (eigenen) jüdischen Geschichte. Hierfür möchte ich mir mit dir folgende Episode ansehen.

Staffel 15, Folge 19: The Raincoats

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https://www.youtube.com/watch?v=jHEDYmT-GDo

Du siehst hier Jerry und seine Mutter. Diese insistiert darauf, dass Jerry sich unbedingt Schindlers Liste ansehen muss. „You have to“ wiederholt sie mehrere Male.

Aufgabe 1: Recherchiere im Internet, sofern du den Film nicht kennst, um was es in dem Film Schindlers Liste geht.

Aufgabe 2: Was denkst du, wieso muss sich Jerry laut seiner Mutter unbedingt den Film Schindlers Liste anschauen?

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https://www.youtube.com/watch?v=J28M7ambckA&t=50s

Dieses Video ist für unsere Frage bis 2:56 interessant. Es zeigt nicht nur die Szene, die nach dem Gespräch von Jerry und seiner Mutter stattfindet, sondern auch, was verschiedene Produktionsbeteiligte über diese Folge sagen. In der Szene, die kurz angerissen wird und die zeitlich nach der Szene von Jerry und seiner Mutter passiert, geschieht Folgendes: Jerry geht mit seiner (jüdischen) Freundin Rachel Goldstein in Schindlers Liste. Während auf der Kino-Leinwand SS-Befehle zu hören sind, beginnen die beiden zu knutschen und übereinander herzufallen.

Aufgabe 3: Schau dir den letzten Clip nochmal an und überlege, worum Jerry Stiller im Interview sagt: „The storyline was like I felt was over the top. […] You cant have them nacking on the balcony while they are watching Schindler’s list, you know. I just felt that they were going over the line with that one.“ Welche Grenze wird hier überschritten?

Aufgabe 4: Sowohl Jerry Stiller als auch Jerry Seinfeld haben, obwohl sie diese Grenze („the line“) spüren, eine eindeutige Haltung zu dem, was in der Szene gezeigt wird.

„And then I thought, well let’s just go over the line.“

Jerry Stiller

„At that point we felt there was nothing we couldn’t pull off.“

Jerry Seinfeld

Wie findest du persönlich diese Grenzüberschreitung? Findest du sie angemessen oder nicht angemessen? Schreibe darüber einen kurzen Brief an Jerry Seinfeld.

Aufgabe 5: Überlege für dich, aus welcher Perspektive du die Aufgabe 4 als „angemessen“ oder „nicht angemessen“ beurteilt hast? Ändert sich etwas an deinem Urteil, wenn du weißt, dass alle drei im Interview vorkommenden Männer – Jerry Stiller, Larry David und Jerry Seinfeld – Juden sind? Überlege nun, warum ich diese Frage stelle und denke dabei an Selbst- und Fremdwahrnehmung und -inszenierung.

Zeitlich geht es nach Jerrys und Rachels Kinobesuch mit dieser Szene weiter:

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https://www.youtube.com/watch?v=eYoIOYPU5WA

Newman, ein Freund von Jerry, den wir bereits im Kino hinter den beiden sitzen und sich empören sahen, taucht in Jerrys Wohnung auf, trifft dort dessen Eltern an und beschwert sich über Jerrys und Rachels Verhalten im Kino. Die Eltern der beiden werfen ihnen danach auf unterschiedliche Arten und Weisen amoralisches Verhalten vor.

Aufgabe 6: Was denkst du, warum empören sich Newman und die Eltern von Jerry und Rachel so? Wieso finden sie das Verhalten der beiden im Kino amoralisch?

Aufgabe 7: Beobachte in den letzten beiden Clips noch einmal genauer die Figur des Newman. Wie wird er inszeniert? An wen erinnert er dich, mit wem wird er durch die Inszenierung seiner Figur in Relation gestellt, sowohl in Gestik, Mimik als auch Sprache? Ein Tipp: Achte nochmal genauer auf die Metaphernfelder, die er in der Sprache verwendet, z. B. „He was moving at her like the stormtroopers into Poland.“

Zusammenfassung von Caspar Battegay:

Die Ironie der Folge The Raincoat, so schlussfolgert Battegay, liegt in der Verweigerung der beiden jüdischen Figuren Jerry und Rachel, sich in die potentielle Opfer-Position von Juden und Jüdinnen zu begeben, welche im Film Schindlers Liste omnipräsent gezeigt wird, indem sie mit ihrer Erotik die quasi heilige Situation der Filmrezeption stören. Sie verwehren sich so einer historisch bewussten, bedeutungsschwangeren Rezeption des Films. Denn Schindlers Liste wurde im Nachhinein nur zu oft als Romantisierung oder Sakralisierung des Judentums kritisiert: Das sich küssende, jüdische Paar scheint insofern die beste Antwort auf die im Film gezeigte „ästhetisierte und nostalgisch verbrämte Version vom Judentum“ und damit alles andere als unmoralisch. Trotzdem spiegelt sich, so arbeitet Battegay heraus, in den beiden Beispielen aus Seinfeld eine gewisse „Ungewissheit des, Jüdischen’“ und eine „kulturelle[…] Nicht-Identität“: Denn Jerry verweigert sich jeweils in beiden Folgen der klaren Positionierung seiner jüdischen Identität gegenüber, indem er sie entweder ersetzt durch seine Identifikation als Komiker oder aber als Liebhaber.

Aufgabe 8: Stimmst du Caspar Battegay in seiner Schlussfolgerung zu, dass Seinfeld eine gewisse „Ungewissheit des ‚Jüdischen’“ sowie eine „kulturelle[…] Nicht-Identität“ spiegelt? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht? Schreibe ein kurzes Feedback zu seiner Zusammenfassung.