The Big Bang Theory oder „Being Jewish in a World full of Nerds“

Der beiläufige Darstellungsmodus von „jüdischer Identität“ in Friends ist, so scheint mir, in The Big Bang Theory in der Figur Howard Wolowitz komplett umgekehrt worden: Knapp 20 Jahre nach Seinfeld erscheint mit ihm ein Jude in der Prime Time, dessen Jüdisch-Sein beinahe wie ein popkulturelles Phänomen selbst daherkommt. Klischeeierte Vorstellungen des schwächlichen, neurotischen, unsicheren jüdischen Mannes, der noch im Erwachsenenalter von seiner jüdischen „Momme“ abhängig ist, werden anhand der Figur Howard durch eben die aneinandergereihte Bedienung dieser zum Coolness-Faktor umkehrt. Hierbei fällt auf, dass sie sowohl auf der Darstellungsebene gezeigt und reproduziert werden, als auch auf der Textebene von ihm selbst immer wieder spielerisch erwähnt werden. Die Inszenierung seiner Figur kreiert gerade aus den klischeeirten Zuschreibungen das Individuelle seiner Persönlichkeit; Howards Umgang mit seiner „jüdischen Identität“ bildet sich im permanenten Spiel von Zuschreibungen und Klischees. Die These zur Verschränkung von Judentum und Coolness haben wir in Lektion 2 des Abschnitts 7 im Kontext von The Nanny bereits angelesen, nun greifen wir einmal auch Caspar Battegay These aus seinem Aufsatz Hip werden heraus. Er schreibt dort, „dass Jüdisch-Sein und die Wahrnehmung des Jüdischen in der Popkultur einem prinzipiellen Wandel unterworfen sind, und dass das Judentum seit einigen Jahren durchaus an Hippness-Faktoren gewonnen hat.“ Howard Wollowitz kann als Kristallationsfigur für diese Entwicklung gelesen werden, wobei im Wechselspiel zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Popkultur natürlich nie klar ist, was zuerst da war: Die in der Wissenschaft beschriebene Coolness des Judentums, die gesellschaftlich wahrgenommene Coolness des Judentums oder Howard Wollowitz?

Aber warum wirkt Howard in seinem permanenten Spiel um sich und die Klischees von Juden so unfassbar cool? Ich überlege: In der Welt, die in The Big Bang Theory vorgestellt wird, also in einer Welt voller stereotyper ›Nerds‹ mit überdurchschnittlich hohem IQ, die Comichefte sammeln, Klingonisch sprechen, Computer spielen und Probleme haben, Frauen kennenzulernen, erscheint das Jüdisch-Sein Howards als weitere besondere ›nerdige‹ Eigenschaft, so wie Rajs indische Herkunft oder dass er nicht mit Frauen sprechen kann, Sheldons sozialphobisches leicht autistisches Verhalten und dessen Redegeschwindigkeit oder aber Leonards Laktoseintoleranz und die Tatsache, dass er eine Brille trägt. Battegays Beobachtung von oben bestätigt sich hier: Dort wo quasi jede Figur eine Minderheit darstellt, verliert das Judentum seine historisch tradierte Außenseiterposition. Das Jüdisch-Sein und der positiv besetzte, zum Teil stark ironisierte Umgang damit sowie mit den zum Klischee verkommenen Bildern vom jüdischen Mann können so empowernd für Howards Identität werden.

Schauen wir uns nun ein paar Beispiele aus The Big Bang Theory an und uns wird sofort ein Unterschied zu Seinfeld, Friends und The Nanny auffallen: Im Modus der Selbstreflexivität und auch der Fremdzuschreibung wird in The Big Bang Theory immer wieder auf Zuschreibungen an Juden und Jüdinnen verwiesen, wenn Howard beispielsweise als „Experte für jüdische Fragen“ (vgl. Staffel 1, Folge 12, The Jerusalem Duality, 2008) herangezogen wird, als Sheldon sich vornimmt, den Israel-Palästina-Konflikt zu lösen, indem er eine Kopie von Jerusalem in die Mexikanische Wüste verlegen will. Hier kannst du dir die zu dieser Geschichte passenden Clips aus der Serie ansehen.

https://www.youtube.com/watch?v=_loLLVBFmNA (ab 1:13)

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https://www.youtube.com/watch?v=h57aEK6LXdY

Sheldon scheint Howard, der weder ein Experte für politische Fragen noch im Speziellen für den Israel-Palästina-Konflikt ist, deswegen, weil er Jude ist, als Experten zu bezeichnen.

Aufgabe 3: Beschreibe die Reaktionen der jüdischen Figuren auf Sheldons Idee. Was denkst du, wieso sie ein Problem mit seiner Idee haben? Liegt das nur an der Idee oder auch daran, wie Sheldon seine Idee vorstellt? Stimmst du Sheldons Ergebnis zu, dass es „definitiv an ihm liegt“? Wenn ja, warum?

Aufgabe 4: Denke kurz darüber nach, ob dir das auch schon Mal passiert ist: Hat dich jemand aufgrund einer deiner kulturellen Identität auch schon Mal zum „Experten*in“ einer politischen Frage gemacht? Wenn ja, wie hast du dich dabei gefühlt? Erinnerst du dich noch, was du geantwortet hast? Schreibe den Dialog aus deiner Erinnerung auf.

Einschub: Ich habe gestern einen sehr spannenden Podcast mit Max Czollek zum Thema Judentum und Popkultur gehört, in dem er auch auf dieses Phänomen des Expertentums eingeht. Ich füge ihn dir hier ran, sodass du das Interview anhören kannst, wenn du daran weiterforschen möchtest:

https://www1.wdr.de/radio/1live/on-air/sendungen/gute-leute/podcast-sophie-passman-mit-max-czollek-100.html

Schauen wir uns ein weiteres Beispiel aus The Big Bang Theory an: Leonards Mutter ist Psychologin. Sie besucht ihren Sohn und analysiert in der Folge, meistens sehr unsensibel und direkt, alle Charaktere auf ihre tiefgründigen psychologischen „Probleme“. Penny unterstellt sie einen ausgeprägten Vaterkomplex, Raj und Howard unterstellt sie eine homosexuelle unterdrückte Beziehung und rundet ihre Argumente ab, indem sie sich an Howard wendet und feststellt, dass „ein erwachsener noch bei seiner Mutter lebender Jude sehr gewöhnlich [sei] und fast ein soziologisches Klischee“ (The Maternal Capaticance, 2. Staffel, Folge 15, 2009).

Diese beiden obigen Beispiele zeigen Ausschnitte, in denen andere Figuren über Howards Jüdisch-Sein sprechen. Es lässt sich beobachten, dass er wiederum diese meistens wenig tiefgründigen, sondern sehr stereotypen Zuschreibungen an ihn als Juden in einem Akt der Ermächtigung immer wieder als Strategie anwendet, um sich als ›besonderer Exot‹ inmitten dieser ihn umgebenden ›Welt von Exoten‹ zu inszenieren. Dies zeigt sich schön in folgendem Beispiel: Sheldons Schwester Missy taucht in der Stadt auf. Die Jungs sind ganz begeistert von ihr und versuchen nacheinander, bei ihr zu landen. Dabei inszenieren sie sich selbst aufgrund ihrer kulturellen Identität als besonders gute Liebhaber. Nachdem Raj sich als indischer Kamasutra-Gott vorgestellt hat, sagt Howard:

„In meinem Heimatland, da erfanden wir die Beschneidung. Keine Ursache!“

Howard in: The Pork Shop Indeterminacy, Staffel 1, Folge 15 (2008)

https://www.youtube.com/watch?v=EVxFv7u95Sg (ab 1:36)

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https://www.youtube.com/watch?v=wdaXAwC1TTE&t=3s

Es fallen in solchen Zitaten von Howard auch immer wieder Formulierungen der Gruppenzugehörigkeit zu „my people“ auf: Als Sheldon in Texas abgeholt werden soll, lehnt Howard es ab, mitzukommen, sein „Volk“ habe die Wüste schon einmal durchquert. (The Electric Can Opener Fluctuation, Staffel 3, Folge 1, 2010).

Es fällt dabei auf, dass diese Zugehörigkeitsäußerungen dabei aber nie persönlicher Natur sind, sondern vielmehr mit Zuschreibungen und Wissen über Juden, jüdisches Leben, jüdischer Geschichte und jüdischer Identität spielen und auf ein Vorwissen bei den anderen Figuren wie Zuschauer*innen angewiesen sind. Howard erklärt seine Witze nicht weiter, die Serie nimmt sich keine Zeit, sie inhaltlich abzurunden und einzubetten – nein, sie werden gemacht, um gemacht zu werden und es wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie verstanden werden. Es wird also davon ausgegangen, dass sowohl die anderen Figuren als auch die Zuschauer*innen erstens diese Klischees kennen, aber zweitens auch ein bestimmtes Vorwissen über die Geschichte von Juden und Jüdinnen haben.

So auch, wenn Howard, wie bereits Fran Fine, immer wieder die religiösen Essensgesetze des Judentums thematisiert, aber stets, um diese spielerisch zu überwinden:

„Das Schweine-Moschu ist teurer geworden. Es wird von Tag zu Tag schwerer, ein schlechter Jude zu sein.“

Howard in: The Financial Permeability, Staffel 2, Folge 14 (2009)

Oder ein weiteres Beispiel: Sheldon macht den Vorschlag, anlässlich des Valentinstages einem brutalen Mord beizuwohnen und Howard antwortet mit einer Anspielung auf die Shoa:

„Wenn sie die Wahl haben, gehen Juden lieber chinesisch essen!“

Howard in: The Large Hadron Collision, Staffel 3, Folge 15 (2010).

Wo in The Nanny all diese Spielereien um Klischees vor allem liebenswürdig wirken, so wirken sie in The Big Bang Theory aus dem Mund von Howard oft beinahe zynisch und erfahren dadurch eine Form von Politisierung. Warum könnte das so sein?

Gehen wir nochmal einen Schritt zurück: Howards Jüdisch-Sein ist also, so halten wir fest, ein stets präsentes, sowohl von ihm, aber auch und das nicht wenig, von seinem Umfeld explizit artikuliertes Thema, über welches seine Figur maßgeblich geprägt wird. Diese Beobachtung scheint mir ein Unterschied zu Serien wie Seinfeld oder The Nanny zu sein; das Tabu, aus einer Fremdperspektive über das Jüdisch-Sein zu sprechen und sogar darüber Witze oder offene Zuschreibungen an seine Person zu machen, scheint nun gebrochen. Howards „jüdische Identität“ ist zum Referenzrahmen aller Figuren geworden, um mit ihm zu interagieren und sich entweder mit oder gegen ihn zu verbünden. Dies zeigt sich – in der Differenz zu Seinfeld und Friends – auch daran, dass es in fast jeder Episode thematisiert wird, während sich bei den anderen beiden jeweils einzelnen Episoden dieser Frage widmen. Diese Form von Grenzüberschreitung kann man nun natürlich kritisch beleuchten. Ich stelle hierfür wieder ein paar offene Fragen in den Raum:

Ist es ein Fortschritt, dass nun Witze über Juden und Jüdinnen, die in anderen Kontexten und aus dem Mund von Fremden und mit einer anderen Sprechhaltung vom Inhalt durchaus auch antisemitisch gemeint sein könnten, im Fernsehen gezeigt werden? Ist das das Ziel, das es zu verfolgen gilt, dass wir, egal wer wir sind, über alles und jeden Witze machen dürfen, ohne darauf zu achten, ob wir aus einer Fremd- oder Eigenperspektive sprechen, nur weil wir selbst irgendwie auch liebenswürdig-nerdige Eigenschaften haben? Legitimiert die Tatsache, dass wir Witze über Inder, Laktoseintoleranz und Autismus machen, dass wir Witze über Juden machen? (Diese Frage könnte man aus jeder anderen Perspektive auch stellen: Also z. B.: Legitimiert die Tatsache, dass wir Witze über Laktoseintoleranz, Autismus und Juden machen, dass wir Witze über Inder machen?) Ist Howard Wollowitz Figur im Umgang mit seinem Jüdisch-Sein manchmal deswegen so böse, weil die anderen Figuren diese Grenze überschritten haben? Auch hier scheint mir sinnvoll, ein Wechselspiel aufzumachen, also die Frage danach zu stellen, was zuerst da war: Die Grenzüberschreitung der anderen oder Howards politisierter, oft zynischer Umgang mit seinem eignen Jüdisch-Sein?

Aufgabe 5: Überlege für dich, wie du diese Fragen beantworten würdest. Reflektiere, ob es dir leicht oder schwerfällt, über diese Fragen nachzudenken.

Aufgabe 6: Überlege nun, warum es in Anbetracht unserer Überlegungen zu Popkultur im Allgemeinen in Ordnung zu sein scheint, nicht alle Fragen, die in diesem Kurs gestellt werden, eindeutig beantworten zu können. Formuliere Fragen, die du an die Figur Howard Wolowitz hast und schreibe sie auf. Schaue dann, ob du in Abschnitt 5 Antworten dazu finden kannst. Wenn du dort noch nicht ausreichend Informationen findest, lese Caspar Battegays Text, den ich dir unten verlinkt habe. Battegay schreibt hier zwar über Konversion zum Judentum in der Popkultur, er zeigt dabei aber auf, wie eine ambivalente „Zugehörigkeit, beziehungsweise das verbreitete Gefühl, dass traditionelle Muster von Zugehörigkeit in der globalisierten Welt nicht mehr ausreichen, um die individuellen Befindlichkeiten zu fassen“ den Coolness-Faktor Jüdisch-Sein erzeugen.

https://pop-zeitschrift.de/2013/12/09/hip-werden-judisch-werdenkonversion-zum-judentum-in-der-popkulturvon-caspar-battegay7-12-2013/