Zurück zu: Antisemitismus ist leider nicht (nur) Geschichte
Antisemitismus, wie auch Diskriminierung im Allgemeinen, entsteht also aus diversen Motiven und noch vielfältiger ist die Form, in der sich diese Anfeindungen ausprägen. Es gibt Statistiken, die helfen ein Verständnis für die Ausmaße sogenannter ‚Hate Crimes‘ zu bekommen. So etwa die jährliche Bilanz der Opferberatungsstellen.
Sündenbock für alles Übel dieser Welt
Wie schon in dem Kapitel Neue alte Vorurteile beschrieben, finden sich immer wieder Stereotype und diskriminierende Unterstellungen gegen jüdische Mitbürger*innen als ein homogenes Kollektiv wieder. Diese trotzen der geschichtlichen Aufarbeitung sowie Erinnerungskultur und finden sich wiederholt in neuen Adaptionen in den Köpfen der Menschen wieder. Einzelnen reichen Persönlichkeiten werden oft fälschlicherweise als jüdisch benannt. Wenn es sich tatsächlich um eine Person mit jüdischen Wurzeln handelt, wird das als Bestätigung für das allgemeine Klischée gesehen. (Vgl. 1)
Gerade in unserer besonderen, aktuellen Lage, in der wir mit einer Pandemie leben, der wir nur mit persönlichen Einschränkungen entgegenwirken können, scheint die Suche nach Sündenböcken und Verantwortlichen begehrter zu werden.
Auch dieses Phänomen tritt nicht das erste mal in unserer Geschichte auf. Bereits im 14. und Jahrhundert wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinde für das Ausbrechen der Pest verantwortlich gemacht. Ihnen wurde unter anderem unterstellt, Brunnen vergiftet zu haben und abertausende wurden als grausame Strafe lebendig verbrannt.

Auch über das derzeitige Corona-Virus kursieren zahlreiche Verschwörungsfantasien, die Staaten oder einzelne Persönlichkeiten für eine bewusste Ausbreitung des Virus zur Selbstbereicherung verantwortlich machen. Oftmals fallen diese unbegründeten Vorwürfe mit bekannten antisemitischen Vorurteilen zusammen.

Wieder wird das antisemitische und stereotypische Bild des reichen „Juden“ gezeichnet, der im Verborgenen das Weltgeschehen lenkt. Und wieder finden sich Anhänger und Gruppierungen zusammen, die dieser Ideologie folgen.
Erkennbar ist als roter Faden, dass diese Sündenbock-Theorien besonders zu Zeiten großer Not oder Verunsicherung laut hörbar werden. Wer sich benachteiligt fühlt, will einen Grund dafür sehen. Dadurch drängen sich Anhänger*innen solcher Verschwörungstheorien in eine Opferrolle.
Das Austauschen der Täter-Opfer Rollen
Der Antisemitismus der Anhänger dieser Verschwörungsphantasien wird dadurch bestärkt, dass sie die Täter-Opfer Rollen des Nationalsozialismus‘ umkehren. Die heutige Gesellschaft wird von einigen Verschwörungsfanatikern mit mit dem faschistischen System unter Hitler gleichgesetzt. Sie inszenieren sich selbst als die Opfer dieses Regimes. Durch dieses geschichts- und politikverdrossene Bild wird der Holocaust in seiner Einzigartigkeit sowie seiner gewaltigen Grausamkeit aufs schärfste relativiert und die jetzige Situation wird mit der des Nationalsozialismus gleichgesetzt.
Dieses Verhalten beleidigt nicht nur das unsagbare Leid, dass die jüdische Bevölkerung während der Shoah in Deutschland durchmachen musste, sondern benutzt die Symboliken jener Zeit für sich. Dadurch werden die Zeichen umgedeutet und somit verharmlost, was antisemitische Äußerungen wiederum salonfähig macht. Eines dieser Zeichen ist etwa die Abwandlung des sogenannten Judensterns, also eines Davidsternes mit schwarzer Kontur auf gelbem Grund, zu einem heute eingesetzten Protestzeichen. Was einst jüdischen Personen aufgezwungen wurde, um sie systematisch aus der Gesellschaft auszuschließen und zu ächten, tragen nun Impfgegner*innen und Corona-Verschwörungsfanatiker*innen auf Demonstrationen. Den damaligen Schriftzug „Jude“ haben sie in ähnlicher Schriftart durch Wörter wie „Zion“, „ungeimpft“ oder „Cov-2“ ersetzt. Damit spielen sie zusätzlich auf die kursierenden Verhetzungen an, Israel (und pauschalisierend benutzen sie auch den Begriff „Juden“ im Allgemeinen) hätte gemeinsam mit China das Virus erfunden und verbreitet.



Antisemitismus in Bezug auf Corona ist nur ein Aspekt, wie sich offene Feindschaft gegenüber jüdischen Personen momentan zeigt. Es ist auch ein Beispiel für Anfeindungen, die vor Gericht noch keinen Bestand haben. Diese werden als Verschwörungsfantasien höchstens bei deutlichem Bestreiten des Holocausts als volksverhetzende tat geahndet. Ansonsten fallen sie in die Grauzone der Beleidigungen.
Deshalb gibt es auch noch immer eine große Kluft zwischen den bei Meldestellen verzeichneten antisemitischen Vorfälle und den Straftaten, die der Polizei bekannt sind. Aber selbst mit diesem toten Winkel ist ein Blick in die offiziellen Statistiken erschreckend.
Im vergangenen Jahr wurden allein in der Hälfte der deutschen Bundesländer 1.347 Angriffe aus rechten, rassistischen oder antisemitischen Motiven registriert. Die Zahl der Betroffenen dieser Angriffe ist dabei mit 1.982 noch höher und misst im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Straftaten von 14% auf Kinder und Jugendliche. Das sind also grob gesagt 5 Angriffe pro Tag. (Vgl. 2.)
Mit einer Verantwortung, wie sie Deutschland durch die Gräueltaten der Vergangenheit hat, ist das eine Entwicklung, gegen die wir als Gesellschaft aktiv vorgehen müssen.
“Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen” – George Santayana
Quellen:
- Delf, Bucher (29.08.2018): Der „ewige Jude“ – neu angekleidet. Für: reformiert.
https://reformiert.info/de/schwerpunkt/der-lewige-juder-n-modern-eingekleidet_0-17689.html - Pressemitteilung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und Antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) (12.05.20): Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2019 – Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen
https://www.verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2019-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/#pressemitteilung - EVTL: Gibt es einen „neuen“ Antisemitismus?
https://www.addendum.org/antisemitismus/