Was ist Antisemitismus?

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“

(Adorno in Bernstein 2020: 36)

Nachdem wir uns näher mit Struktureller Diskriminierung und dem Konzept des Verbündet-Seins beschäftigt haben, widmen wir uns dem Begriff des Antisemitismus näher. Antisemitismus meint die Strukturelle Diskriminierung von Juden*Jüdinnen.

Das umfasst „die Feindseligkeit gegen und Stereotypisierungen von Juden_Jüdinnen und Judentum sowie gegenüber Israel, das als Staat im besonderen Fokus antisemitischer Aktivitäten steht.“

(Czollek et al. 2019: 110)

Antisemitismus ist also ein Phänomen, das sämtliche Formen der Judenfeindschaft umfasst. Diese hat sich über Jahrhunderte hinweg in verschiedenen Erscheinungsformen entwickelt. Antisemitismus formt Bilder über Jüdinnen*Juden und legt es darauf an, eine Wirklichkeit zu schaffen, in der Jüdinnen*Juden alle gesellschaftlichen Übel zugeordnet werden.

Antisemitismus ist ein Phänomen, das historisch entstanden ist und sich bis in die jetzige Zeit in verschiedenen Formen transformiert hat. Von Pogromen im Mittelalter, die Vernichtung der Jüdinnen*Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, bis hin zu unserer Gegenwart, in der deutsche Jüdinnen*Juden im Alltag diskriminiert werden bzw. Vernichtungsphantasien gegenüber Israel als gerechter Kampf gegen „unterdrückende Besatzer“ verstanden wird.       

Jüdinnen*Juden gelten im Antisemitismus als „die Anderen“. Diese Herleitung der „Andersartigkeit“ entsteht über Vorurteile und Stereotypen. Hier gehen wir nochmal auf die am Anfang des Kurses angesprochene affektive Komponente der Gedächtnisrepräsentation ein. Da Vorurteile tief emotional verankert sind, ist es schwer diese durch Erfahrungen und Argumentationen zu verändern:

„Trotz des Wissens über die Geschichte der Judenverfolgung ändern sich die Judenbilder in Vorurteilen nicht, auch wenn sie sich durch Fakten oder Common Sense widerlegen lassen (….) Das bedeutet, antisemitische Vorurteile operieren nicht auf der Basis einer falschen Generalisierung empirischer Sachverhalte, sie sind ideologische Konstruktionen eines Feindbildes, die als Phantasmen die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerren. Antisemitische Vorurteile verfestigen sich also nicht nur trotz ihrer Falschheit, sondern gerade deswegen.“

(Bernstein 2020: 37f)

Die Außenwelt wird mit der eigenen Gefühlswelt gleichgesetzt. Das Gefühl schafft sich seine Wirklichkeit und Rechtfertigung in antisemitischen Judenbildern. Über die Vorurteile hinaus manifestiert sich Antisemitismus gleichzeitig als Ideologie und Weltanschauung. Erst das Intensivieren der Erfahrungen durch Kontakte zu den als „Anders“ verstandenen führt zu nachhaltiger Veränderung dieser Einstellungen.

„Historisch ist Antisemitismus als Antijudaismus religiös motiviert. Der Begriff des Antisemitismus wurde Ende des 19. Jahrhunderts von deutschen Antisemit_innen geprägt, die ihre Feindschaft gegenüber Juden_Jüdinnen pseudo-wissenschaftlich und rassistisch zu legitimieren versuchten. Er richtete sich gegen die rechtliche und politische Gleichstellung von Juden_Jüdinnen. Gegenwärtig wird unter Antisemitismus die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen bezeichnet, unabhängig davon, welche Motive zugrunde liegen (wie z. B. religiöse, rassistische, soziale oder sonstige). Er umfasst alle Äußerungen und Handlungen, mittels derer Juden_Jüdinnen direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst über Stereotypzuweisungen als ‚Juden‘ (Konstruktion) entwertet, stigmatisiert, diskriminiert und diffamiert werden.“

(Czollek et al. 2019: 110)

Im Folgenden wollen wir uns den einzelnen Formen von Antisemitismus und ihrer Unterschiedlichkeiten widmen. Zu jeder Form werde ich Beispiele auswählen und genauer beschreiben. Dabei greife ich vor allem auf die 2018 veröffentlichte Studie von Dr. Julia Bernstein von der Frankfurt University of Applied Science zurück. Im Verlauf des 17-monatigen Forschungsprojektes wurden 251 narrative und problemzentrierte Interviews mit Akteuren an Schulen geführt, wobei die Heterogenität sehr wichtig war. So beinhaltet die Studie ein Spektrum mit jüdischen Schüler*innen, ihrer Eltern, jüdischen Lehrkräften, Expert*innen, Sozialarbeiter*innen, Schüler*innen sowie Studierenden der sozialen Arbeit. Die Betroffenenperspektiven stehen dabei im Vordergrund und werden mit Perspektiven nicht-jüdischer Lehrkräfte verglichen. (vgl. Bernstein 2020:24) Bernstein greift diese Studie in ihrem neuen Buch „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ (2020) genauer auf. Ich werde im Abschnitt „Analysebeispiele“, Lektion „Antisemitismus in der Schule“ nochmal genauer darauf eingehen.

Für Interessierte empfehle ich die Lektüre des neuen Buches „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ von Julia Bernstein, da neben dem Zurückgreifen auf die Studie auch eine Menge theoretischer und praktischer Hintergrundinfos enthalten sind. Besonders für Lehrkräfte ein Muss. Ihr könnt euch aber auch die Ergebnisse der Studie auf der Seite der Frankfurt University of Applied Science herunterladen.