sekundärer Antisemitismus

„Ausschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen“

(Zvi Rix, zit. n. Heinsohn 1988: 119)

Wie dieses Zitat gut aufzeigt, folgt der sekundäre Antisemitismus „der Erinnerungs- und Schuldabwehr auf persönlicher und kollektiver Ebene angesichts der Shoah“ (Bernstein 2020: 59). Es soll ein positives Selbstbild erzeugt, eine „sekundäre Unschuld“ (Bernstein 2020: 59) hergestellt werden, indem Jüdinnen*Juden als Repräsentant*innen dieser Erinnerung abgewertet werden. Damit wird der Ansatz, gegen Diskriminierung von Jüdinnen*Juden vorzugehen als Einschränkung eigener Rechte und Freiheiten empfunden. Dass das Bedürfnis, einen Juden zu kritisieren, eher einem Schuldverschiebungsbedürfnis als einem Freiheitsbedürfnis entspricht sei einmal dahingestellt.

Die Nichtvereinbarkeit des eigenen anti-antisemitischen Selbstbilds und eigener antisemitischer Empfindungen führt zu einem Spannungsverhältnis und damit zu einer Relativierung des eigenen biographischen Bezugs. So werden oft „Sprechverbote“ kritisiert, die es gar nicht gibt. Der Satz „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ ist ein gutes Beispiel dafür. Der eigene innere Konflikt wird auf die Außenwelt bezogen, die eigenen Zweifel an dem, was man da sagen will, wird auf irgend eine konstruierte Instanz verschoben, die einem angeblich vorschreibt, dass man das doch so nicht sagen darf. Die eigene Handlung, das auszusprechen, hat dann plötzlich eine scheinbar emanzipierende Funktion, obwohl sie weit davon entfernt ist, emanzipiert zu sein, schließlich bedeutet Emanzipation, sich von tradierten Rollenmustern zu lösen und nicht, diese wieder anzunehmen oder zu reproduzieren.

Ähnlich verhält es sich mit dem „Nationalstolz“, der vor allem durch die in Deutschland stattgefundene Fußball-WM 2006 wieder auflebte. Der wieder erstarkende deutsche Nationalismus zeigt sich in Formen des Partypatriotismus und völkischem Nationalismus. Auch die selbst beweihräuchernde Erinnerungskultur, bei der man davon ausgeht, die Vergangenheit aufgearbeitet zu haben ist ein weiterer Faktor (Auf diesen Punkt gehe ich in der Lektion „das deutsche Gedächtnistheater“ näher ein.) Alle diese Entwicklungen sind eine Gegenreaktion auf das Gefühl, man werde mit seiner Meinung unterdrückt und dürfe diese nicht frei aussprechen. (vgl. Bernstein 2020: 60)

Julia Bernstein zählt folgende Vorgänge auf, die die Erinnerungs- und Schuldabwehr des sekundären Antisemitismus zeigen (vgl. Bernstein 2020: 60ff):

Relativierung der Shoah

Die industrielle und systemische Vernichtung der europäischen Jüdinnen*Juden während der deutschen Nazizeit wird oft mit anderen Völkermorden verglichen und damit relativiert. Dabei geht es darum, die Schuld von sich zu weisen, indem man sich auf andere Staaten bezieht, die noch viel schlimmere Dinge getan hätten.

„Monica: eine Freundin sagt ihr: „Ok, Holocaust, aber was ist mit anderen Völkermördern, wo viele Unschuldige umgekommen sind. Was ist mit Repressionen von Stalin […]“

(Bernstein 2020: 60)

Relativierung der Täterschaft

Oft wird das deutsche Volk oder die eigene Familie von Schuldzuweisungen freigesprochen, indem sie lediglich als Mitläufer*innen oder sogar Widerständler*innen dargestellt werden. Hätte z.B. damals wirklich jede Familie, von der das heute behauptet wird, jüdische Menschen vor den Nazis versteckt, wären wohl nicht so viele jüdische Menschen vernichtet worden. Die Schuld wird der nationalsozialistischen Partei und Hitler zugeschoben, vergessen sind die Massen an Menschen, die damit ideologisch völlig übereinstimmten.

„Simons Lehrer hat die Schüler*innen folgende Sätze aufschreiben lassen: ‚Hitler hat tolle Autobahnen gebaut, man soll objektiv die Geschichte betrachten. Nicht alles war so schlecht.‘“

(Bernstein 2020: 61)

Täter-Opfer-Umkehr

Ähnlich wie der vorherige Punkt, nur, dass hier sogar Deutschen eine Opferposition konstruiert wird. So werden Tatsachen verdreht, z.B. die Bombardierung durch die Alliierten als „Bombenholocaust“ bezeichnet. Anders herum werden auch Juden zu Täter*innen gemacht, indem z.B. Israelis mit Nationalsozialisten gleichgesetzt werden.

„Ira: Bei einer Diskussion über Israel im Unterricht saß ein zwei Meter großer Junge neben ihr und hat sie angebrüllt, dass ‚Israelis genau dasselbe mit Palästinensern machen, was die Nazis mit den Juden machten.“

(Bernstein 2020: 61)

Leugnung der Shoah

Über antisemitische Verschwörungstheorien wird die Shoah geleugnet und Juden als Verschwörer gedeutet.

„Diana erlebt, wie ein Mitschüler sagte, den Holocaust habe es nicht gegeben. Diana hat sich daraufhin eingemischt und ihn gefragt, was er da erzählt. Der Junge antwortet: ‚Dich hätte man mit vergasen sollen‘.“

(Bernstein 2020: 62)

Schlussstrichforderungen

Basierend auf den Relativierungen der Shoah und der Täterschaft entstehen Forderungen nach einem „Schlussstrich“ in Bezug auf die Erinnerung, da die Geschichte erfolgreich aufgearbeitet sein solle.

„Björn Höcke, AfD Politiker […]: ‚Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.‘“

(Bernstein 2020: 63)

Vorwürfe über vermeintliche Instrumentalisierung der Shoah

Jüdinnen*Juden wird vorgeworfen, sie würden die Shoah heutzutage dazu ausnutzen, um wirtschaftlich oder politisch zu profitieren. Dieses Vorurteil baut auf dem mittelalterlichen Vorurteil des „gierigen“ Juden auf.

Lehrkraft berichtet über Schüler, der sagte: „Die Juden haben doch ganz viele Zuschüsse gekriegt und kriegen doch noch Milliarden an Entschädigung.“

(Bernstein 2020: 63)

Antisemitismuskeule

Der Begriff der Antisemitismuskeule wirft Jüdinnen*Juden vor, sie würden „willkürliche Antisemitismusvorwürfe konstruieren, um sich gegenüber unliebsamer Kritik zu immunisieren und das Gegenüber zu diskreditieren.“ (Bernstein 2020: 63) Gerade in Bezug auf „Israelkritik“ beschweren sich zum Beispiel politisch aktive Menschen, das Land nicht kritisieren zu dürfen ohne zum Antisemit gemacht zu werden, sowie zum Beispiel der bekannte Politiker und Publizist Jürgen Todenhöfer:

„Liebe Freunde, wer sich, […], für die Rechte der Palästinenser ausspricht, ist nicht antisemitisch. sondern einfach nur gerecht. Für alle, die die Keule des Antisemitismus gelegentlich auch gegen mich geschwungen haben [….] Deshalb: Packt endlich die Anti-Semitismuskeule ein und packt sie nie mehr aus!“

(Todenhöfer in Bernstein 2020: 63)

„Die Rechte von Palästinensern“, wie Todenhöfer es hier bezeichnet haben meistens wenig mit einer Unterstützung der Bevölkerung im Gazastreifen und Westjordanland zu tun, schließlich kritisieren diese Menschen ja auch nicht die Hamas als islamistische Terrororganisation, sondern tendieren dazu, „Israelkritik“ auszuüben und das ist antisemitisch, wie ich in der nächsten Lektion genauer beschreiben werde.