Moderner Antisemitismus

„Der moderne Antisemitismus, der nicht mit dem täglichen antijüdischen Vorurteil verwechselt werden darf, ist eine Ideologie, eine Denkform, die in Europa im späten 19. Jahrhundert auftrat. Sein Auftreten setzt Jahrhunderte frühere Formen des Antisemitismus voraus.“

(Postone in Bernstein 2020: 48)

Zwar erhielten jüdische Menschen im 18. Jahrhundert gewisse Bürgerrechte und wurden als religiöse Minderheit anerkannt, solange sie sich anpassten, doch ging dies auch einher mit der Konstruktion einer „rassischen Andersartigkeit“. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert galten sie als „Personifikation moderner Phänomene und des abstrakten Herrschaftsverhältnisses“ (Bernstein 2020: 48). Neben dem im Mittelalter entstandenen Vorurteil der Nähe zum Finanzwesen gesellte sich nun das Vorurteil der Nähe zum Kapitalismus. Die kapitalistische Gesellschaft konstruiert eine Spaltung zwischen der „Undurchsichtigkeit abstrakter Herrschaftsverhältnisse und ihrer Wahrnehmung als natürliche Ordnung im modernen gesellschaftlichen Leben“. (Bernstein 2020: 48) Alles „böse“ gilt als jüdisch, unabhängig davon ob das „böse“ kommunistisch, kapitalistisch oder nationalistisch ist. Judenbilder werden anhand von Gegensätzen zu den eigenen Werten ausgestaltet, der Jude wird zum Anderen und damit zum Feindbild gemacht. Diese Spaltung ist eine Grundlage für antisemitische Verschwörungstheorien. Unabhängig der unterstellten Einstellung werden Jüdinnen*Juden mit „Macht“ und „Kontrolle“ in Assoziation gebracht. Es gibt unzählige Verschwörungstheorien, die antisemitische Vorurteile aufzeigen, z.B. der Bezug auf die Rothschilds, Illuminati oder jüdische Macht in den USA im Zuge der Finanzkrise. Es ist, denke ich, für die meisten klar, dass man solche Ressentiments in rechtspopulistischen oder nationalsozialistischen Bewegungen findet, die die deutsche Kultur als „sittsam“, moderne Gegenbilder als „jüdisch“ darstellen. Man findet sie aber auch bei kapitalismuskritischen, linken Bewegungen vor, in Form der Vorstellung einer „guten Arbeiterschaft“, die sich gegen das „böse Kapital“ auflehnen muss. Aber auch die Mitte der Gesellschaft ist nicht davon ausgeschlossen wie diese Anekdote aus Bernsteins Buch aufzeigt:

„Eine als Witz erzählte Anekdote über einen Juden, der eine antisemitische Zeitung liest, verdeutlicht die Absurdität antisemitischer Feindbildkonstruktionen in der Zuschreibung von Omnipotenz: Ein jüdischer Freund fragt ihn, ob es wahr ist. Er erwidert: ‚Ja, tue ich und es tut mir gut, wenn ich eine jüdische Zeitung lese, lese ich nur über Probleme und Schwierigkeiten und da in der antisemitischen Zeitung steht, Juden sind reich, beherrschen die Welt, sind klug, finden immer für Alles Lösungen und alle halten unter sich zusammen.‘“

(Bernstein 2020: 50)