Israelbezogener Antisemitismus

In der letzten Lektion bin ich darauf eingegangen, dass „Israelkritik“ antisemitisch sei. Heißt das, dass es antisemitisch ist, die israelische Politik zu kritisieren? Nicht unbedingt… man kann das Vorgehen der israelischen Regierung natürlich kritisieren, so wie man auch das Vorgehen der deutschen oder beispielsweise amerikanischen Regierung kritisieren kann. „Israelkritik“ ist aber antisemitisch, da die Kritik an z.B. einer politischen Handlung der Regierung auf das gesamte Land und sein Existenzrecht bezogen wird.

„Der israelbezogene Antisemitismus stört sich an der Existenz Israels, unabhängig davon, was Israelis oder die israelische Politik tun.“

(Bernstein 2020: 64)

Im israelbezogenen Antisemitismus findet eine Dämonisierung des Staates Israel statt. Kriege, Terroranschläge und Vernichtungsphantasien gegen Israel werden nicht kritisiert. Dagegen werden über die „Israelkritik“ antisemitische Denkmuster normalisiert. Das, was früher „Jude“ war, wird jetzt als „Zionist“ bezeichnet, die Denkmuster sind aber die Gleichen.

Antisemitische Verschwörungstheorien werden heute oft auf Israel bezogen. Dabei kann man ganz deutlich erkennen, dass sich die klassischen Muster des Antisemitismus auf diese neue Situation übertragen haben, so wie z.B. die Verschwörungstheorie über eine „zionistische Weltherrschaft“ oder die Übertragung der Rituallegenden auf die heutige Parole „Kindermörder Israel“. (vgl. Bernstein 2020: 64)   

Das Ganze hat auch eine Wirkung auf jüdische Menschen, die in Deutschland leben. Die heutige jüdische Gesellschaft in Deutschland ist sehr heterogen. Es gibt unterschiedlichste Herkunft und die verschiedensten politischen Überzeugungen. Es gibt gläubige und nicht-gläubige jüdische Menschen. Es gibt jüdische Menschen, die in Deutschland geboren sind und nie woanders wohnten, eine Großzahl jüdischer Menschen ist in den 90ern aus anderen Ländern nach Deutschland migriert. Viele dieser Menschen haben keinerlei Bezug zu Israel. Trotzdem müssen sie sich oft rechtfertigen und werden sogar bedroht und angegriffen, weil sie als Repräsentant*innen Israels gesehen werden.

Natan Sharansky hat einen 3-D-Test entwickelt, der eine Art Warnsystem sein kann und hilft, zu unterscheiden, ob eine Aussage über Israel legitim oder antisemitisch ist. Die drei Ds (doppelter Standard, Dämonisierung, Delegitimierung) will ich im Folgenden genauer beschreiben (vgl. Bernstein 2020: 203ff):

Doppelter Standard

Israel wird als Staat hervorgehoben und anders bewertet als andere Staaten. Handlungen des israelischen Staates werden kritisiert, obwohl man diese Handlungen bei vielen anderen Staaten auch findet. Somit bezieht sich die Kritik nicht auf die Problemhaftigkeit staatlicher, egoistischer Handlungen an sich, sondern immer direkt auf Israel als „böser“ Staat oder Feindbild, während die anderen Staaten die „guten“ sind. Allein das Wort „Israelkritik“ zeigt schon den Unterschied, denn sonst gibt es keinen anderen Staat, der ein eigenes Wort dafür hat. Es gibt keine Deutschlandkritik, keine USA-Kritik, keine Brasilienkritik, hier wird höchstens immer von Merkel, Trump oder Bolsonaro gesprochen. Kritisiert man politische Handlungen der israelischen Regierung, wird nicht von Netanjahu und seiner Likud-Partei gesprochen, immer ist der Staat selbst Ziel der Kritik. Dass es sich hier um einen demokratischen Staat mit pluralistischen Meinungen und innerpolitischen Auseinandersetzungen handelt, wird nicht beachtet.   

„Es ist zum Beispiel Antisemitismus, wenn Israel durch die Vereinten Nationen wegen Menschenrechtsverletzungen herausgepickt wird, während Länder wie China, Iran, Kuba und Syrien, die nachweislich wirklichen Mißbrauch treiben, ignoriert werden.

Ebenso ist es Antisemitismus, wenn Israels Magen David Adom als einzige Ambulanz-Organisation der Welt nicht zum Internationalen Roten Kreuz zugelassen wird.“

(Sharansky 2004)

Ersteres bezieht sich vor allem auf den UN-Menschenrechtsrat. Eine Untersuchung von UN-Watch der vom Rat beanstandeten Menschenrechtsverletzungen ergab, dass sich zwischen zwischen 2006 und 2015 61 Verurteilungen auf Israel bezogen, 56 Verurteilungen auf den Rest der Welt, wovon noch Syrien mit 16 Verurteilungen am höchsten ist. Staaten wie Zimbabwe, China, Kuba oder Venezuela wurden kein einziges Mal verurteilt. (vgl. UN-Watch 2015)

Dämonisierung

Das schon durch den Antijudaismus entstandene Bild der Dämonisierung des Judentums wird nun auf Israel projiziert. So wird Israel beispielsweise oft als „Apartheidsstaat“,  „Aggressor“ oder „Menschenrechtsverletzer“ dargestellt. Auch ein Vergleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland kommt häufig vor. Hier findet man auch wieder die vorher erwähnte sekundär-antisemitische Täter-Opfer-Umkehr. In vielen Beiträgen wird Israel mit dem Teufel gleichgesetzt bzw. Bilder von Dämonen als Assoziation herangeführt, um Israel zu kritisieren.

„Zum Beispiel die Vergleiche von Israelis mit Nazis und der palästinensischen Flüchtlingslager mit Auschwitz – Vergleiche, die innerhalb der „aufgeklärten“ Viertel Europas praktisch jeden Tag zu hören sind – können nur als antisemitisch bezeichnet werden.

Diejenigen, die solche Vergleiche ziehen, wissen entweder überhaupt nichts über Nazideutschland oder, was wahrscheinlicher ist, versuchen bewußt das heutige Israel als Inbegriff des Bösen darzustellen.“

(Sharansky 2004)
Demonstration gegen den Krieg im Libanon am 21.07.2006 in Berlin. Quelle: bpb: Traditioneller und moderner Antisemitismus (28.11.2006)

Delegitimierung

Die beiden erwähnten Ds zielen auf eine Delegitimierung Israels ab. Dem israelischen Staat wird das Existenzrecht abgesprochen. Das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Staates wird anerkannt, ganz gleich, was er mit seinem Recht anstellt, bei Israel wird aber jeder Vorfall dazu verwendet, die Existenz des Staates völlig in Frage zu stellen.

Der Soziologe David Hirsh stellt hier treffend fest:

„Jeder Antisemitismus kritisiert den, der vor ihm kam. Wilhelm Marr sagte schon Ende des 19. Jahrhunderts, christlicher Antisemitismus sei eigentlich lächerlich, man müsse aber verstehen, was das Problem mit den Juden nun sei. In ähnlicher Weise sagt das, was heute ‚neuer Antisemitismus‘ genannt wird: ‚Klar, wir sind gegen den alten, faschistischen, also den echten Antisemitismus, aber gleichzeitig sind es die Juden und Zionisten, die heute verantwortlich für Krieg und Elend – und viel, viel mehr sind.‘“

(Hirsh in Bernstein 2020: 204)

Wie handeln?

Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat ein sehr gutes Modell entworfen, dass Menschen, die im pädagogischen Kontext arbeiten, dabei helfen soll, besser mit israelbezogenem Antisemitismus umzugehen:

Modell zum Erkennen und Bearbeiten von Israelbezogenem Antisemitismus im pädagogischen Kontext, Quelle: Amadeu-Antonio-Stiftung