Die „wunderbare“ Welt der Schubladen

Dass Menschen ihre Umgebung in Kategorien einteilen, ist vollkommen normal und erleichtert uns im Alltag das Leben. Stell Dir vor, Du müsstest vor jedem Überqueren der Straße bei jedem einzelnen Auto erst analysieren, ob es steht oder sich bewegt. Dadurch, dass wir in Bruchteilen von Sekunden unsere Umwelt einzuschätzen wissen, können wir uns schneller und sicherer durch den Alltag bewegen. Im Grunde nehmen wir die gesamte Welt nur durch den Filter unserer Kategorisierungen wahr. Umso wichtiger erscheint es mir, dass wir uns dieses Prozesses bewusst werden und ihn zu verstehen versuchen. Das oben beschriebene Straßenszenario, ist ein Beispiel für die erste Ebene unseres ‚Schubladendenkens‘, in dem unser Gehirn blitzschnell zwischen ‚gefährlich‘ und ‚ungefährlich‘ unterscheidet. (Vgl. 2) Ein anderes Beispiel wäre das Erkennen eines Wolfshunds. Wenn wir einen großen Hund in einem Gebäude oder einem Park neben einer Person wahrnehmen, reagieren wir im Gegensatz zu einem großen Hund in einem Wald unwillkürlich anders. Ersteres wird direkt in die Schublade ‚Hund = ungefährlich‘ gesteckt, letzteres hingegen in die Kategorie ‚Wolf = gefährlich‘.(Vgl. 2)
Der Mechanismus, des Kategorisierens ist uns also inhärent und eine biologische Komponente, die unbewusst sehr viele Male am Tag in unseren Köpfen abläuft.

Die andere Ebene dieses ‚Schubladendenkens‘ ist die Einteilung von Inhalten, die in diese Kategorien fallen. Mit Inhalten meine ich erlernte Zuordnungen. Unsere sogenannte ‚Sozialisation‘, also unser Kontext, in dem wir in unseren Familien, unseren Bildungseinrichtungen und unseren Gesellschaft(en) aufgewachsen sind, hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt bewerten. Auch wenn wir das bewusst zunächst nicht wahrnehmen, sind wir durch unsere Sozialisation geprägt. Unser gesellschaftliches und moralisches Verständnis entwickelt sich erst im Laufe unserer Entwicklung und wird zunehmend von Reflektion und kritischem Infragestellen auf der sozialisierten Grundlage auf die Waage gestellt. Ohne diese Orientierungshilfe würden wir nicht auskommen, diese Grundeinstellungen nehmen wir aber unwissentlich auf, wodurch es sehr viel schwerer ist diese gegebenenfalls abzubauen.
Denn so sehr uns das Schubladendenken dabei hilft, Sicherheit und eine effizientere kognitive Informationsverarbeitung in unserem Alltag zu haben, ist es doch eine sehr vereinfachte Einteilung der Welt, die viel facettenreicher ist und in der bildlich gesprochen nichts nur schwarz oder weiß ist, sondern alles eine unterschiedliche Graustufe darstellt. Diese fiktive Kategorisierung ist also ein sogenanntes ‚gesellschaftliches Konstrukt‘, was bedeutet, dass es eine Hilfskonstruktion in unserer Gesellschaft ist, die wir im Zusammenleben entwickelt haben. Diese entspricht aber nicht der tatsächlichen Realität, sondern dient uns viel mehr als Stütze im Umgang mit einander und unserer Umgebung.
Was von uns automatisiert als (moralisch oder gesellschaftlich) ‚richtig‘ und ‚falsch‘, als ‚gut‘ und ’schlecht‘ betrachtet wird, erfordert demnach eine konstante Infragestellung. Das stellt immer einen Mehraufwand dar, der nicht nur Zeit und Charakterstärke erfordert, sondern unser gesamtes Weltbild immer wieder verändert. Um ein differenziertes und reflektiertes Verständnis von unserer Gesellschaft sowie unserer Umwelt zu erlangen, ist dieser Prozess aber Arbeit, die unabdingbar ist.

(c) Laura-Marie Preßmar

Die Abbildung veranschaulicht noch einmal die einzelnen Schritte bis zu einer Bewertung und einem Verhalten gegenüber einer von uns wahrgenommenen Person, einer Situation oder auch eines Objektes. Der „kontrollierte Prozess“ ist jener, den wir direkt beeinflussen können. Wenn wir auf dieser Ebene aktiv unsere Beurteilungen und Handlungen hinterfragen, können wir die unbewussten ‚automatischen Prozesse‘ mit unseren Erkenntnissen anpassen und das ‚Vorurteilslevel‘ nach und nach senken.

Zum Schluss eine Veranschaulichung an einem (Dir vielleicht bekanntem) Beispiel:
Wenn wir also das erste Mal in ein neues Klassenzimmer, in einen Seminarraum oder auf eine Veranstaltung gehen, treffen wir viele Menschen, deren Persönlichkeit, Hintergrund, eigenes Identitätsverständnis, Humor, Charaktereigenschaften, Sprechweise, etc. uns noch gänzlich unbekannt ist. Trotzdem machen wir uns recht schnell einen Eindruck darüber, wen wir als sympathischer empfinden als andere. Wie kommen wir darauf? In diesem Fall möchten wir eventuell Kontakt mit Menschen in diesem Zusammenkommen aufnehmen. Dadurch sind wir in einem Kontext, der uns die Menschen anders bewerten lässt als wenn wir beispielsweise ins Kino gehen würden. Wir suchen bei der Kontaktaufnahme nach Menschen, deren Kleidung etwa auf eine Subkultur schließen lässt, der wir auch angehören oder die wir als positiv empfinden. Oder deren Garderobe eben nicht auf Subkulturen schließen lässt. Wir nehmen die Körpersprache war, die (von uns jeweils unterschiedlich empfundene) Attraktivität, die Gesichtsmerkmale, die Hautfarbe, den Schmuck der Person, ihr eventuelles Make-Up, etc. Wir greifen in wenigen Sekunden auf sehr viele Schubladen zu und zu allen haben wir unbewusst schon eine feste Meinung. Diese kann durch neue Informationen, die wir über diese Person erhalten zwar korrigiert werden, aber die Person aus ihrer Schublade zu holen erfordert die Bereitschaft, seine Annahmen immer wieder aufs Neue zu überdenken, anzupassen und zu aktualisieren. Wir werden das Schubladendenken zwar nie wegtrainieren, aber wir können lernen die Schubladen viel leichter wieder zu öffnen und einen dynamischeren Wechsel der Inhalte zu ermöglichen.

Aufgabe:

  1. Überlege Dir, ob Du schon einmal eine Person auf den ersten Blick (also vor einer etwaigen ersten Kommunikation) als besonders sympathisch wahrgenommen hast. Das könnte ein*e jetzige Freund*in, Kolleg*in, jemand auf einem sozialen Netzwerk oder eine Person sein, mit der du danach keinerlei Kontakt mehr hattest.
    1.1 Schreibe dir Stichworte auf, die zu dieser Empfindung geführt haben können.
    1.2 Betrachte nun diese Stichwörter und überlege beim jedem, weshalb du Du sie als positiv konnotiert hast. Gedankenanregungen könnten dabei sein: Hast Du gemeinsame Interessen aus der Erscheinung gelesen? Wirkte diese Person attraktiv auf Dich? Hat Dir eventuell schon etwas an ihrer Körpersprache gefallen? In welchem Kontext hast Du sie gesehen?

Quellen:

  1. Cortés Eberling, Heidemarie und Howard, Heidi (2004): Erwartungen von Andersartigkeit: Erklärungsansätze aus der Stereotypen- und Vorurteilsforschung.
  2. Smiljanic, Mirko (01.09.2016): Wie unser Gehirn die Welt sortiert. Schubladen für das Denken. Für Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/wie-unser-gehirn-die-welt-sortiert-schubladen-fuer-das.1148.de.html?dram:article_id=364463
  3. Werth L., Seibt B., Mayer J. (2020): Vorurteile. In: „Sozialpsychologie – Der Mensch in sozialen Beziehungen“. Berlin, Heidelber: Springer. S.227-321.