Desintegration und Radical Diversity

„Desintegration ist, das liegt schon im Wort selbst, eine Erwiderung auf die beständig vorgetragene politische und gesellschaftliche Forderung nach Integration.“

(Czollek 2019: 15)

In Abschnitt 3, Lektion 10, habe ich bereits Max Czolleks Buch „Desintegriert euch!“ angesprochen. Letztendlich kritisiert Czollek das deutsche Integrationsdenken als ein neovölkisches Denken, welches ein kulturelles und politisches Zentrum konstruiert, das sich ausdrücklich als Deutsch versteht (vgl. Czollek 2019: 15).

Desintegration in diesem Sinne ist also nicht nur für jüdische Menschen ein Anliegen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Das in Abschnitt 3, Lektion 11 erwähnte deutsche Gedächtnistheater  benutzt Jüdinnen*Juden und kann nur überwunden werden, wenn man das heutige Integrationsdenken in Frage stellt. Aber auch aus nichtjüdischer Sicht macht eine Kritik daran Sinn, da die Forderung nach Integration nicht mehr der heutigen Realität einer diversen, vielfältigen Gesellschaft entspricht. Die „deutsche Leitkultur“ ist kein zeitgemäßes Konstrukt mehr.  

Desintegration „fragt nicht, wie einzelne Gruppen mehr oder weniger gut in die Gesellschaft integriert werden können, sondern wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann.“

(Czollek 2019: 73f)

„Wenn Dobrindt und Seehofer das wünschen, können sie sich ein Kreuz in ihr Büro hängen, zum Mittag Weißwurst mit süßem Senf essen und mindestens eine Maß Bier trinken. Das ist doch überhaupt kein Problem für mich und meine Freund*innen und das ist der Punkt, an dem sich die Vertreter*innen der deutschen Leitkultur und diejenigen, die ein Konzept radikaler Vielfalt verteidigen, grundlegend unterscheiden: Die einen wollen einen Raum schaffen, in dem man ohne Angst verschieden sein kann. Die anderen wollen kulturelle Maßstäbe für die Zugehörigkeit zu Deutschland aufstellen, womit sie notwendig jene ausschließen müssen, die nicht  in ihr Konzept von Leitkultur passen.“

(Czollek 2019: 72f)

Der Ansatz der Desintegration bzw. des Konzepts radikaler Vielfalt fokussiert also die eigene Perspektive von Akteur*innen, anstatt diese zu labeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die afro-deutsche Dichterin May Ayim, die wunderschöne Gedichte verfasst und damit internationales Ansehen erlangt hat. In Deutschland wurde sie in den Augen der Medien aber immer nur als Vertreterin einer Minderheit betrachtet. Sie wurde als Aktivistin für afrodeutsche Rechte anerkannt, als Künstlerin ganz lange nicht. Ähnlich verhält es sich bei jüdischen Menschen:

„Jüdisches Leben in Deutschland ist aschkenasisch und wütend, mizrachisch und queer, liberal und arm, kleinbürgerlich und exzessiv, orthodox und bartlos. Vielleicht lernen wir gerade erst, diese innnerjüdische Vielfalt wahrzunehmen. Um ihr aber auch gerecht werden zu können, müssen wir das Gedächtnistheater verlassen.“

(Czollek 2019: 152)

Hier kommt Judith Butlers Konzept der Performativität ins Spiel:

„Performativität bedeutet, grob gesagt, dass gesellschaftliche Realitäten ihrer fortlaufenden praktischen Wiederholung bedürfen.“ (Czollek 2019: 177) Das heißt, dass Vorurteile und Stereotypen sich erst durch Wiederholen weiter manifestieren:

„Im Falle von Antisemitismus bedeutet diese Performanz, dass die fortlaufende Benennung der Juden als kommunistische Unruhestifter, kapitalistische Ausbeuter, vaterlandslose Gesellen oder Ähnliches immer wieder gesellschaftliche Realität erzeugt. Diese Realität manifestierte und manifestiert  sich in politischen Praxen, die von Fragen des Staatsbürgerrechtes über Pogrome bis nach Auschwitz reichen.“

(Czollek 2019: 176)

Wird diese Wiederholung unterbrochen oder etwas Neues konstruiert und das dann immer wiederholt, kann sich etwas an den Zuständen verändern. Czollek plädiert deshalb dafür, Jüdinnen*Juden nicht als Opferfiguren zu inszenieren, sondern auch als „Racheengel“ und „Sieger über Faschismus“ (Czollek 2019: 170). Er nennt dazu als Beispiel Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“. Wer den Film nicht kennt: Brad Pitt stellt zur Zeit des Nationalsozialismus  eine Gruppe jüdischer Soldaten zusammen, die Vergeltungsschläge auf die Nazis verüben. Jüdische Menschen sind in diesem Film keine Opfer, sie sind Racheengel, sie ermächtigen sich durch die Rache an den Nazis wieder selbst. Eine ganz andere Message als das deutsche Gedächtnistheater.    

Das muss nicht bedeuten, dass es unabdingbar ist, für Gleichberechtigung anzufangen, gewaltvoll gegen diskriminierende Menschen vorzugehen, gerade aber für die Darstellung in Kunst und Kultur ist der Punkt der Rache ein interessanter Aspekt, da er dem deutschen Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung eine unversöhnliche Perspektive entgegenstellt. (vgl. Czollek 2019: 181).

Das folgende Video dokumentiert die Veranstaltung „Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“, die vom 6. bis 8. Mai 2016 am Maxim Gorki Theater, Berlin stattfand. Hier wird auch nochmal auf das Konzept der Desintegration eingegangen.

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https://www.youtube.com/watch?v=jIBQI17s6Do

Integrationsdenken versucht Menschen anzupassen. Wer sich wie anpasst, entscheiden aber die privilegierten Gruppen. Ist man deutsch genug, um dazu zu gehören? Meine Antwort ist, dass man aus dieser Perspektive nie deutsch genug sein wird. Die Alternative einer radikalen Vielfalt setzt den Fokus auf Vielfältigkeit von Menschen und dies kann helfen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, in der Unterschiede keine Probleme mehr darstellen, eine Gesellschaft, in der Vielfalt nicht nur toleriert, sondern auch gewollt wird.

Zum Schluss noch ein sehr lustiges, satirisches Video, welches im Rahmen der „Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur“ veröffentlicht wurde und aufzeigt, wie Empowerment auf künstlerische Weise funktionieren kann:

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https://youtu.be/41R_X9ZjHRA