Definition(-sschwierigkeiten)

Wie Du vielleicht aus den letzten beiden Abschnitten erkannt hast, ist Antisemitismus also kein in sich geschlossenes Phänomen, sondern tritt in vielen Erscheinungen auf. Wie bei anderen Sachverhalten auch, ist es in einem solchen Fall unmöglich eine allgemeingültige Definition anzuführen, die alle Dimensionen und Ausprägungen beinhaltet. Da wir für den Umgang, nicht nur im rechtlichen Sinne, sondern auch im Diskurs über diese Form des Hasses aber eine Definition benötigen, gibt es Versuche, eine Begriffserklärung festzuhalten, mit der man arbeiten kann. Die Arbeitsdefinition, die ich im Folgenden darstelle, ist weithingehend anerkannt. Seit sie 2016 von der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) angenommen wurde, ist diese Erklärung weit verbreitet. 2017 wurde sie dann von der Bundesregierung übernommen.

Die Arbeitsdefinition lautet:
 

‚Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.‘

Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:
 
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
 
Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:

  • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
     
  • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
     
  • Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
     
  • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
     
  • Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
     
  • Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
     
  • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
     
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
     
  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
     
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
     
  • Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.
     

Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).
 
Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Juden in Verbindung gebracht werden.
 
Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.“(1)



Diese Definition gibt ohne viele Fachwörter und mit anschaulichen Beispielen eine klare Orientierung für den Umgang mit der Terminologie, wenn es um Antisemitismus geht. Außerdem behandelt sie als eine der ersten Definitionen den Aspekt des israelbezogenen Antisemitismus, der bis dahin oft nicht thematisiert wurde.(Vgl. 2) Allerdings zeigt sich auch bei diesem ausführlichen Definitionsversuch, dass keine Definition erstellt werden kann, ohne mangelhaft zu erscheinen. Dadurch, dass verschiedene Aspekte angesprochen werden, fallen andere, wie zum Beispiel Antisemitismus in Bezug auf ein „verschwörungstheoretisches Weltbild“ oder das Mobilisieren durch Bewegungen und Parteien, unter den Tisch.(2)

Puh, das war jetzt sehr viel trockener Input, der trotzdem viel zu verkürzt wenige Aspekte aufgreift und sehr unbefriedigend keine klaren Antworten gibt.
Genau das ist aber auch die Quintessenz dieses Abschnittes. Ich empfehle Dir in jedem Fall, Dich selbst nocheinmal genau damit auseinanderzusetzen und zu reflektieren, was Antisemitismus ausmacht, welche Begriffe generalisierend und problematisch sein können und welche Verantwortung wer für welche Taten oder Sprache hat.
Aber dadurch, dass der Mensch seine gesamte Umwelt in Schubladen einteilt und Kategorisierungen dem menschlichen Befinden dabei helfen, sich im Alltag zurechtzufinden, ist jede Definition wieder eine weitere Einteilung unserer Gesellschaft und unseres Weltbildes. JEDE Definition ist dadurch mangelhaft, da unsere Welt, unsere Gesellschaft und jedes Individuum, das darin lebt sehr viel facettenreicher sind, als man es in einer allgemeinen Bestimmung festhalten könnte. Definitionen helfen uns, uns zurechtfinden, aber wir müssen in jedem Einzelfall den Kontext berücksichtigen und gleichzeitig einen Kontext, den wir eventuell nicht aus der Situation erkennen können, als möglich im Hinterkopf behalten. Man kann keine pauschalisierenden Definitionen erheben, da es keine allgemeine Objektivität gibt, die auf mehr als eine Person mit ihrem gesamten Hintergrund, Erfahrungsschatz und bewusst erfahrener Identität zutrifft.

Aufgabe:
1. Überlege Dir, ob Du schon einmal eine Situation hattest, in der Du Dir nicht sicher warst, ob das selbst gesagte oder das Gehörte angemessen war. Notiere Dir, die Situation in der Du warst (wer hat mit wem geredet, wo und in welchem Kontext) und was Dein Unbehagen ausgemacht hat.


Quellen:

  1. IHRA: Arbeitsdefinition von Antisemitismus: https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus
  2. Ullrich, Peter (10.2019): Gutachten zur ‚Arbeitsdefinition von Antisemitismus‘. Für die Rosa Luxemburg Stiftung.
    https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_2-2019_Antisemitismus.pdf