Das deutsche „Gedächtnistheater“

„Eben an dem Punkt, an dem das Gedenken in nationale Gedenkfeiern umgemünzt wird, werden Juden gebraucht – die toten Juden und die lebendigen Körper von Juden.“

(Bodemann in Czollek 2019: 24)

Zum Schluss dieses Abschnitts will ich noch einmal auf einen wichtigen Aspekt eingehen, der meiner Meinung nach grundlegend für das Verständnis der heutigen Situation in Deutschland ist. Der Lyriker und Publizist Max Czollek veröffentlichte 2018 das Buch „Desintegriert euch!“. Czolleks Buch ist ein radikaler Ansatz, Integration anders zu denken und es regt dazu an, bisherige Überzeugungen in Frage zu stellen.  

Czollek greift das von Y. Michal Bodemann 1996 veröffentlichte Werk „Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“ auf, um eine provokante Kritik am bestehenden deutschen Integrationsverständnis aufzuwerfen.

Bodemann bezeichnet als „deutsches Gedächtnistheater“ die Inszenierung des Gedenkens an die Shoah „als kreativen und dramatischen Akt, der einem Stück im Theater gleicht.“ (Bodemann in Czollek 2019: 24) Das Gedächtnistheater vermittelt Trauer „typischerweise über einen solidaritätsstiftenden Akt bluttätiger Gewalt“ (Bodemann in Czollek 2019: 24) und erfüllt die Funktion „kollektive[r] Identitätsstiftung“ (Bodemann in Czollek 2019: 24). Diese konstruierte Identität setzt den Fokus auf ein neues deutsches Selbstbild, in dem die Deutschen „befreit“ wurden. Jüdische Menschen sind für die Deutschen nur in dem Sinne wichtig, als dass ihnen die Rolle als „Vertreter*innen der Vernichteten“ (Czollek 2019: 24) auferlegt werden. Die regelmäßige Inszenierung deutscher Erinnerungskultur zielt also mehr darauf ab, ein versöhnendes deutsches Selbstbild zu konstruieren, indem man jüdische Menschen als Opfer inszeniert, anstatt aufzuzeigen, wie vielfältig jüdisches Leben in Deutschland ist.  

Czollek bringt als Beispiel den 2015 vom Bundestag neu einberufenen unabhängigen „Expertenkreis Antisemitismus“. Unter den Mitgliedern des Rates waren keine jüdischen Menschen vertreten. Auf Nachfrage hieß es, der Kreis wäre „nicht nach Religionszugehörigkeit, sondern nach fachwissenschaftlicher Expertise besetzt“ (Czollek 2019: 25) Czollek spekuliert auf Grundlage dessen, dass der Bundestag jüdischen Menschen hier wohl keine unparteiische Meinung zutrauen würde oder wie will man sich sonst erklären, dass für so einen Rat die Nachfahren der Täter*innen den Nachfahren der Opfer vorgezogen wurden oder wie Czollek meint:

„Man will die Juden nur, wenn sie einem auch nützen.“

(Czollek 2019: 25)

Das Problem, das damit einhergeht, ist auch, dass Antisemitismus nicht als Normalität innerhalb der deutschen Gesellschaft gesehen wird, sondern die Deutschen sind stets bemüht diesen der Ränder der Gesellschaft zuzuordnen, um sich ein besseres Selbstbild zu erzeugen:

„Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden 12.6. Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet.“

(Czollek 2019: 109)

Wie oft haben wir in den Medien davon gelesen, dass AfD-Wähler*innen einfach politisch frustriert sind, sogenannte „Protestwähler“. Das dem Ganzen ein immanenter gesamtgesellschaftlicher Antisemitismus und Rassismus innewohnt wird kaum erwähnt oder angesprochen. Ganz im Gegenteil versuchen einige Parteien AfD-Wähler*innen mit eigenen rassistischen Aussagen zurück zu gewinnen, plötzlich werden Heimatliebe oder Angst vor Überfremdung ernst genommen. Czollek bezeichnet diese Haltung als „Rhetorik der Zärtlichkeit“:

„Die Rhetorik der Zärtlichkeit halte ich nicht nur für politisch und persönlich fragwürdig, sie scheint mir auch eine eigentümliche Schwerpunktsetzung für linke oder linksliberale Parteien zu sein. Stattdessen könnten sie sich ja auch mit Menschen mit Migrationshintergrund solidarisch erklären, die machen mittlerweile immerhin fast ein Viertel der deutschen Bevölkerung aus, von denen zur letzten Wahl knapp die Hälfte wahlberechtigt war. Ist das keine politische Zielgruppe mit Zukunft?“  

(Czollek 2019: 117f) 

Statt sich also mit rassistisch oder antisemitisch diskriminierten Personen oder Gruppen zu solidarisieren, verstärkt sich eine „Rhetorik der Härte“ gegenüber Migrant*innen:

„Denn zunehmend braucht es keine willentliche Entscheidung mehr, in Deutschland völkisch zu denken oder zu handeln. Es braucht eine Entscheidung, es trotz der Rhetorik der politischen Umgebung nicht zu tun.“

(Czollek 2019: 119)

Max Czollek schlägt mit seinem Buch das Konzept der „Desintegration“ vor, um aus dieser Misere auszubrechen. Auf dieses Konzept werde ich noch einmal im abschließenden Abschnitt „Handlungsoptionen“ genauer eingehen.