Bündnisse und Verbündet-Sein

Es gibt die verschiedenste gesellschaftliche Bündnisse, die gegen Strukturelle Diskriminierung vorgehen. Bündnisse und das Verbündet-Sein ermöglichen einen Zugang, „um kollektives Handeln über identitätspolitische Grenzen hinaus denken zu können und auf gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren“. (Czollek et al. 2019: 38) Deutschland ist von einer Tradition diskriminierender Politiken und Praxen geprägt und Bündnisse sind eine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.

Bündnisse werden zum einen von jenen getragen, die selbst zu den Diskriminierten gehören, zum anderen aber auch von jenen, die zwar Privilegien innehaben, aber an einer Bekämpfung von Struktureller Diskriminierung interessiert sind. Zusammen ergibt sich ein politisches Gestaltungspotential.

So wurde z.B. das Frauenwahlrecht durch ein politisches Bündnis aus weiblichen und männlichen Aktivist*innen durchgesetzt. 

Die Umsetzung des Gedankens der Bündnisse birgt also ein hohes Maß an politischem Gestaltungspotential.

Einem solchen Bündnis stehen nicht selten die Interessen, die gewohnten Denkweisen und Wahrnehmungsstrukturen der einzelnen Akteur_innen entgegen. Die Realisierung von Bündnissen setzt daher ein Umdenken bei den Beteiligten voraus. Das gemeinsame Ziel, strukturelle Diskriminierung zu beseitigen, steht im Vordergrund. Dafür ist nötig,

„nicht nur eine ‚Betroffenheitsperspektive‘ einzunehmen bzw. nur die je eigenen Diskriminierungserfahrungen wahrzunehmen und/oder sie als einzige ernst zu nehmen. Die Ablehnung Struktureller Diskriminierung jeglicher Art zielt vielmehr darauf, dass wir auch innerhalb der eigenen Kollektive aussprechen, dass Sexismus Sexismus, Antisemitismus Antisemitismus, Rassismus Rassismus ist – ungeachtet der Frage, wer diese Diskriminierung ausübt.“

(Czollek et al. 2019: 39) 

Verbündet-Sein beschreibt in Anlehnung an Hannah Arendt eine Art der politischen Freundschaft, in der die Anliegen der Anderen zu eigenen Anliegen werden, es geht um Solidarität, bei der nicht das Ich im Zentrum steht, sondern die Anderen:

„Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. […] Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, […] irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es, […] ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist […]. Je mehr solcher Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann, und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung, sein.“

(Arendt in Czollek et al. 2019: 203) 

Diesen Ansatz des Verbündet-Seins, den wir auch in unserem Projekt Meschugge verfolgen, sieht Hannah Arendt als Pluralität des Menschen als „absolutes Unterschiedensein“ voneinander. (Arendt 1967: 14). Ihre Theorie der Perspektivenvielfalt verweist auf ein dialogisches Denken, das die eigenen Perspektiven erweitert. Es geht darum etwas aus mehreren Sichtweisen zu reflektieren, also nicht nur bei der eigenen Sichtweise zu verharren, um sich eine Meinung oder ein Urteil zu bilden. Es geht nicht darum, sich in die Position der Anderen ‚authentisch‘ einzufühlen, das ist auch meist gar nicht möglich. Vielmehr geht es darum, „vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich etwas vorzustellen“ (Arendt 1986: 78) und dadurch die eigene Haltung zu erweitern. Außerdem beinhaltet dieses Vorgehen auch das Aufgeben privater Interessen und das Hinterfragen eigener fester Standpunkte und gesellschaftlich hergestellter Wahrheiten im Zusammenhang mit struktureller Diskriminierung (z.B. auf Grund von Vorurteilen).

„Ein Verstehen, das nur in der Begegnung von Verschiedenen stattfinden kann, keine sinnstiftende Gemeinschaft, die nur das Einverständnis kennt, ist der gemeinsame Ort – jene Heimat, die nur öffentlich zu haben ist.“

(Arendt in Czollek et al. 2019: 205)

Das Konzept des Verbündet-Seins fördert ein Handeln, bei dem sich Menschen zeitlich und örtlich zusammenschließen, die Vielfalt der Perspektiven betrachten und Interesse an den Anderen haben. Diese Handlung ist bei Arendt immer gegen totalitäre Strukturen und ideologische Prinzipien zugunsten des Gemeinwesens gerichtete.  Ein Mensch kann verbündet werden, wenn sie*er in bestimmten Bereichen ihre*seine soziale Macht nutzt, um sich gegen Strukturelle Diskriminierung nicht-privilegierter Menschen einzusetzen.

„So kann eine Person beispielsweise in Bezug auf ihre soziale Herkunft zwar zur nicht-privilegierten Gruppe, in Bezug auf Geschlecht und sexuelles Begehren aber zur privilegierten Gruppe gehören. Aus dieser privilegierten Situation heraus kann diese Person Verbündete sein für Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts und/oder sexuellen Begehrens Diskriminierung erfahren. Während die klassischen Formen von Solidarität die Kategorie ‚ihresgleichen‘ forcieren, geht es im Rahmen des Verbündet-Seins darum, für die Anderen einzutreten – ungeachtet von Sympathie, emotionaler Nähe, Angehörigkeit zu einer Gruppe oder Eigennutz. Das Verbündet-Sein operiert also nicht nach dem Prinzip der Mitgliedschaft, demzufolge wir solidarisch sind, wenn wir dazugehören. Stattdessen rückt das Interesse an Veränderung und das Interesse an Anderen in ihrem jeweiligen So-Sein ins Zentrum.“

(Czollek et al. 2019: 40)

Nehmen wir das Beispiel der blacklivesmatter-Proteste. Die Proteste bieten einen öffentlichen Ort, bei dem vielfältige Interessen und Einstellungen zusammenkommen. Sie richten sich allgemein gegen Rassismus und gegen das disziplinierende und unterdrückende Verhalten der Polizei im Speziellen. Falls ich nun z.B. weiß bin, bedeutet Verbündet-Sein die vielfältigen Positionen der Demonstrierenden im Dialog zu erfahren und sich dafür zu interessieren, weitergehend dafür zu sorgen, dass diese Stimmen gehört werden. Es bedeutet auch, die eigenen Perspektiven und Haltungen (darunter auch Stereotype und Vorurteile) zu reflektieren und die eigenen Privilegien in Frage zu stellen. Wenn dieser Schritt gegangen ist, sollte man sich nicht sagen: “Ich bin auf dieser Demo, also bin ich kein Rassist.“, denn dann hat man wohl den Teilnehmenden nicht zugehört. Mit dem Prinzip des Verbündet-Seins wäre die Reaktion eher: „Ich bin in einer rassistischen Gesellschaft sozialisiert worden und trage viele Vorurteile und Stereotypen in mir. Ich bin auf dieser Demo und zeige mich solidarisch mit rassistisch diskriminierten Menschen, aber es ist weiterhin wichtig, mich selbst zu reflektieren und Betroffenen zuzuhören, um besser zu verstehen sowie mich im öffentlichen Leben dafür stark zu machen, dass diese unterdrückten Stimmen gehört werden.“  

Die Haltung, die mit dem Verbündet-Sein zu Tage tritt erfordert also:

  • Selbstreflexion der eigenen Reproduktion individueller Diskriminierung 
  • Erarbeitung einer Haltung, die gesellschaftliche Pluralität ernst nimmt
  • Nicht-Hierarchisieren von Diskriminierungsformen, keine Diskriminierung ist wichtiger/schlimmer als die andere  
  • Eröffnung von Handlungsräumen für jene, die von Struktureller Diskriminierung getroffen sind:
    • auf individueller Ebene (z.B. Wen unterstütze ich wie, wem höre ich zu, wie verhalte ich mich, was tue ich?)
    • auf der institutionellen Ebene (Wo engagiere ich mich gegen institutionell festgeschriebene diskriminierende Praxen zugunsten anerkennender Umgänge?)
    • auf kulturellen Ebene (Wo und wie gestalte ich Diskurse mit, wo vermittle ich plurale Werte?).

Mit dieser Haltung entstehen Ideen für Handlungsoptionen, die im Alltag umgesetzt werden können, um Strukturelle Diskriminierung zu unterbrechen. Eine Strategie für das Verbündet-Sein ist z.B. das Undoing. Der Prozess der Anpassung von Menschen in stereotype, hierarchische Verhältnisse (doing) wird bekämpft durch die Praxis, stereotype Zuschreibungen zu problematisieren und ihnen entgegen zu wirken (undoing). Undoing gender nennt sich zum Beispiel eine gängige Praxis, stereotype Zuschreibungen von Geschlechterrollen zu problematisieren und Geschlechtervielfalt zu pluralisieren (vgl. Czollek et al. 2019: 38ff)

Gegen Ende des Kurses werden wir nochmal genauer auf das Verbündet-Sein hinsichtlich eigener Handlungsoptionen zu sprechen kommen.