Antijudaismus und christliches Privileg

„Der christliche Antijudaismus [ist], die religiös motivierte, aber auch kulturell sozial und ökonomisch determinierte Form des Ressentiments gegen Juden vom Mittelalter bis zur Neuzeit.“

(Benz in Bernstein 2020: 43)

Seit der Antike wurden Jüdinnen*Juden auf Grund ihrer Religion verfolgt. Von den Römern wurden sie um das Jahr 70 aus Jerusalem vertrieben. Mit der Entstehung des Christentums hat sich eine Feindschaft zum Judentum entwickelt, da sich die Christen auf Grund ihres Anspruchs, eine universelle Religion zu sein, bewusst vom Judentum abgegrenzt haben. Mit dem neuen Testament wurden antijudaistische Feindbilder erzeugt. Die Dämonisierung des Judentums wurde Teil der christlichen Theologie. Dem christlichen Glauben der „Erlösung“ durch Jesus stand der jüdische Glaube gegenüber, das auserwählte Volk Gottes zu sein. Die Nichtanerkennung des „Erlösers“ durch das Judentum wird vom Christentum als Provokation gesehen, die Widersprüchlichkeit der beiden Glaubenssätze führt zu einer Abwertung des Judentums durch das Christentum. Obwohl dies schon längst wiederlegt ist, werden Juden z.B. kollektiv für die Ermordung von Jesus verantwortlich gemacht, anstatt die damalige römische Besatzungsmacht. Diese geschichtsverfälschende Betrachtung rechtfertigte immer wieder Hass, Stigmatisierung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Menschen. Die religiöse Feindschaft wirkte sich auch auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse aus und verfestigte sich kulturell. Im Mittelalter bezeichnete Martin Luther die Juden zum Beispiel als „Teufel und Feinde der Christen, aber ebenso als geldgierige Wucherer, die nicht bekehrt, sondern bekämpft werden sollten.“ (Bernstein 2020: 45). Folgende damals entstandenen Stereotype werden noch bis heute reproduziert:

Dämonisierung:

Juden werden als „halbmonströse, krumnasige dunkle Gestalten mit schwarzgelockten Haaren, aber auch mit Hörnern“ (Bernstein 2020: 45) dargestellt. Da das hebräische Wort „qāran“ קָרַן (strahlend) in der lateinischen Vulgata mit „cornuto“ (gehörnt) statt mit „coronato“ (gekrönt) übersetzt wurde, finden sich entsprechende Darstellung eines „gehörnten Moses“ wieder. Die berühmte Statue „Moses“ von Michelangelo aus dem Jahre 1515 ist so ein Beispiel.

Dieses Bild des Dämons wird nach wie vor auf Juden*Jüdinnen übertragen, wie wir es in folgendem Kommentar einer Teilnehmerin aus Bernsteins Studie sehen:

„Als meine Tochter in der elften Klasse im Gymnasium war, kam ein neuer Junge in die Klasse, und meine Tochter hat ihm sehr gefallen und er wollte mit ihr Zeit verbringen. Einmal fuhren sie im Bus, er hat ihr über den Kopf gestrichen. Sie fragte ihn, was er macht. Er sagte, er wollte mal wirklich spüren, wie Juden Hörner am Kopf haben.“

(Bernstein 2020: 45f)

Ritualmordlegenden:

Im 12. Jahrhundert entstanden Gerüchte, dass Juden zur Osterzeit aus Hass auf Christen, Kinder entführen und ermorden würden. Ein Stereotyp über eine rituale Praxis der Juden entstand und wird auch mit sogenannten „Blutlegenden“ gemischt, die aussagen, dass Juden das Blut ihrer christlichen Opfer zum Backen von Matze, einem ungesäuerten Brot, verwenden. Hier wird sogar das jüdische Verbot, Blut zu sich zu nehmen, umgekehrt. (vgl. Bernstein 2020: 46)

Gottesmordlegende:

Die Schuld an der Kreuzigung Jesu wurde von der Kirche bis Mitte des 20. Jahrhunderts den Juden vorgeworfen. Erst 1965 relativierte Papst Johannes XXIII im zweiten vatikanischen Konzil die Gottesmordlegende, indem das Dokument „Nostra aetate“ die Darstellung verwarf, Juden seien Schuld am Tod Jesu. Vielmehr bekräftigte die Kirche hier den Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk und verdammte jeden Antisemitismus. Die im Jahr 2000 gehaltene Rede von Papst Johannes Paul II., der wohl einer der bedeutendsten kirchlichen Vertreter hinsichtlich der Besserung des katholisch-jüdischen Verhältnisses ist, ist in diesem Kontext auch zu nennen:

„Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“

(Papst Johannes Paul II. 2000)

Obwohl die katholische Kirche ihre offizielle Position hinsichtlich des Gottesmordes geändert hat, finden sich bis heute Vorurteile und Stereotypen sowohl in Kirche wie Bevölkerung wieder, wie das nächste Beispiel aus Bernsteins Buch beschreibt:

„Simon berichtet von einem Lehrer, der sagte: ‚Die Juden haben auch Jesus ermordet‘. Simon antwortete, dass sich der Papst vor einigen Jahren für diese Aussage doch schon entschuldigt habe. Der Lehrer erwiderte, dass er es nicht mitbekommen habe und fügte hinzu: ‚Außerdem, was die Juden heute den Palästinenser antun, ist ja auch nicht besser‘.“

(Bernstein 2020: 47).

Hier sieht man also auch wieder gut, wie ein bis in das zweite Jahrhundert zurückgehendes Vorurteil noch heute tief in den Köpfen der Menschen verankert ist.

Brunnenvergiftungslegende:

Jüdische Menschen wurden in der Geschichte häufig als Verursacher von Pestepidemien beschuldigt. Das Vorurteil des verschwörenden, hinterlistigen Brunnenvergifters besteht bis heute. So zum Beispiel Mahmoud Abbas, Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, 2016:

„Erst vor einer Woche haben israelische Rabbiner eine deutliche Erklärung abgegeben: sie verlangten von ihrer Regierung, das Wasser zu vergiften, um Palästinenser zu töten.“

(Abbas in Bernstein 2020: 47)

„Wucherjude“:

Das Stereotyp des „Wucherjuden“ wurde schon im neuen Testament thematisiert, als Jesus Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel vertrieb. Die Tendenz, Juden mit Gier oder Geiz zu assoziieren, entwickelte sich dann im Mittelalter weiter. Da jüdischen Menschen die Zulassung zu Zünften und Gilden verboten wurde und Christen aus religiösen Gründen keine Zinsen verlangen durften, spezialisierten sich einige jüdische Menschen auf Handel und Geldleihe. Mit Lockerung des Zinsverbots für Christen entstand ein Konkurrenzkampf, der dazu führte, dass jüdische Menschen hauptsächlich nur noch an die ärmeren Menschen der Bevölkerung Geld verleihen konnten. Obwohl dadurch viele jüdische Menschen verarmten, blieb das Bild des „reichen, ausbeutenden Juden“ als Stereotyp bestehen und entwickelte sich in Form des modernen Antisemitismus weiter, das Bild einer „Finanzmacht der Juden“, die man auch heute in kapitalismuskritischen Kontexten wieder findet, entstand. (vgl. bpb 2006).

Darauf gehen wir später noch einmal konkreter ein, neben dem „Finanzjudentum“ findet sich aber auch in der heute weit verbreiteten Aussage „Du Jude“ dieser Stereotyp wieder, wie sich in einem Beispiel aus Bernsteins Studie zeigt:

„Sasha schildert, wie ein Mitschüler, der ihm einen Kugelschreiber abkaufen wollte, ihn gegenüber seiner Lehrerin als ‚Wucher-Jude‘ beleidigt und ihm unterstellt ‚zu viel Geld abgezogen zu haben‘.“    

(Bernstein 2020: 47)

Diese ganzen Facetten des Antijudaismus bestehen schon seit Ewigkeiten und haben sich über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit und Moderne weiter entwickelt. Die oben erwähnten Beispiele zeigen ihre Aktualität in der Gegenwart auf.   

Hier finde ich es nochmal wichtig, auf das christliche Privileg einzugehen. In Deutschland hält man uneingestanden am Christentum als dominante Weltanschauung fest, indem beispielsweise die öffentliche Einhaltung christlicher Werte und Lebensformen als notwendig erachtet wird (z.B. über Feiertage, öffentliche Plätze, Bildung,…). Das christliche Privileg wird auf Kosten nicht-christlicher Lebensweisen im Rahmen einer Kultur- und Politikgeschichte ausgelebt, in der christliche Werte selbstverständlich und als vermeintlich normal vermittelt werden. Man hört in den öffentlichen Debatten ganz oft „Der Islam gehört nicht zur jüdisch-christlichen Wertegesellschaft“. Klar ersichtlich ist für die Meisten, dass hier das christliche Privileg ausgenutzt wird, um alle muslimisch gläubigen Menschen auszuschließen. Das ist Rassismus. Was aber auch in diesem Satz steckt, ist das Pauschalisieren und Zuordnen einer ganzen Religion/Kultur, nämlich des Judentums, in das eigene Werteverständnis. Es gibt genügend Beispiele, die aufzeigen, dass sich eine christliche Weltanschauung durchsetzt, diese einfach das „jüdisch“ für sich vereinnahmt, obwohl Juden tagtäglich strukturell diskriminiert werden und das Ganze dann als „christlich-jüdische“ Tradition darstellt. Um etwas provokant zu sprechen, vielleicht ja auch deswegen, um sich neben den Rassismusvorwürfen  nicht auch noch mit Antisemitismusvorwürfen auseinanderzusetzen. Es wird gerne das Bild einer gleichberechtigten, versöhnten Gesellschaft aus Juden und Christen konstruiert, aber das ist nicht Realität und das Judentum zählt leider in Deutschland immer nur so weit, wie es sich dem christlichen Privileg anpasst. 

Zum Abschluss dieser Lektion würde ich euch bitten, einmal darüber nachzudenken und zu recherchieren, wie sich das christliche Privileg in dieser Gesellschaft strukturell manifestiert, also individuell, kulturell und institutionell? Findet ihr Beispiele dafür? Wie sind diese entstanden und auf welche Weise stellen sie eine Unterdrückung anderer Religionen dar?